Ach, kann das Modernste schön sein!

NDR Elbphilharmonie Orchester, Nils Mönkemeyer Viola, Matthias Pintscher Dirigent  Elbphilharmonie, 13. Oktober 2023

https://www.matthiaspintscher.com/

Elbphilharmonie, 13. Oktober 2023

NDR Elbphilharmonie Orchester

Nils Mönkemeyer   Viola
Matthias Pintscher   Dirigent

György Kurtág (*1926)
Petite musique solennelle / en hommage à Pierre Boulez 90 (2016)

Matthias Pintscher (*1971)
Idyll (2014)

Peter Ruzicka (*1948)
Depart / Konzert für Viola und Orchester (2022)

 György Kurtág
Stele für großes Orchester op. 33 (1994)

Adagio
Lamentoso-disperato, con moto   Molto sostenuto


von Harald Nicolas Stazol 

Es ist schon ein besonderes Geschenk, einen Dirigenten sein eigenes Werk aufführen zu sehen und zu hören, und im Falle des Matthias Pintscher ist es außergewöhnlich – und auch, dass dieser Komponist sich nach der Pause vom Podium unter unwetterartigem Beifall erheben wird und auf die Aufführungsfläche kommt: Doch zunächst Dirigat und Komposition in einem – die Pintscher’sche Partitur sprengt doppelt das Format DIN A 3, komplett mit Eintragungen in Bleistift, das erspähe ich durch mein stets mitgeführtes Opernglas, und das NDR Elbphilharmonie Orchester sprengt an Leistung gerade sich selbst.

So zumindest mein Eindruck, bei des Pintscher „Idyll“. Was habe ich, als Privileg vom NDR eigeninitiativ eingeladen, die „Ultra-Moderne“ gefürchtet, und wie unbegründet erweist sich heute meine Distanz, da ja wirklich ohne jegliche Dissonanz vorgetragen wird (ist das denn dann auch in der Tat modern?), mit vollem Sinfonieorchester, soll heißen: Jeder Quadratmeter der Bühne der Philharmonie ist mit einem außergewöhnlichen Musiker besetzt, das allein IMMER eine Ohrenweide, von der Weide der Augen ganz zu schweigen. Doch dazu später.

Denn dieser Freitag ist ja erst der Auftakt eines dreitägigen Festivals zu Ehren des zeitgenössischen György Kurtág, dessen „Petite musique solennelle / en hommage à Pierre Boulez 90 (2016)“ weniger mitreißt, als geradezu entführt. Wie die leisesten Flügelschläge der Motte, die über meinen Platz C Reihe 1, Platz 1, gerade an meinem Ohr vorbeifliegt, und als ich das in der Pause erzähle, fragt der mich erstmals begleitende Stadtplaner Rolf, „Ja, ist es schon soweit?“ Nein, soweit ist es noch nicht.

Zur Eröffnung also Kurtág, Jahrgang 1926, und so stelle ich mir die musikalische Umsetzung des „Glasperlenspiels“ vor, so leicht-leise ist das Werk, surrende Flügelschlag-Töne, flirrend manchmal, so zart, dass tatsächlich nur dreimal gehustet wird, denn der nicht ganz ausverkaufte Saal lässt jegliche Störung geradezu NICHT zu. „Zerbrechlich“, schreibe ich auf, und „Tonwellen“ und „langes Pizzicato“, und „wie ein Windhauch“.

Windhauch? Erstmals in meinen nunmehr mindestens 40 Besuchen des Hauses, gedenke ich an den Brücken, meine Zigarette in die Linke zu nehmen, und mich im Notfall rechts am Geländer festzuhalten, strebt doch die Elbe unter mir schon flussaufwärts, die erste Sturmflut der Saison wellt schaumkronend dem Flusse entgegen, aber der Konzertsaal ist ja ganz, ganz oben.

Es hat schon etwas Nützliches, einen Architekten zur Seite zu haben, wenn man die Treppen der Elphi ersteigt! „Die schwarzen Fußleisten wurden nachträglich und gegen den Willen der Erbauer zu gefügt – „eigentlich war das Ganze wie in der ,Tate Modern‘ gedacht, aber die Stufen waren ob des hellen Parketts beim Abstiegs für die Besucher nicht sichtbar“, und ich danke der Nachbesserung: Ich darf gestehen, dass ich bei jedem Besuch die Church’s oder lederbesohlten Aldens im Schuhschrank lasse, auch die spitzzulaufenden  Dolces – mit meinem Mündel Maurice, 16, habe ich schon die Abmachung, dass er mich einst in hoffentlich weiter Zukunft das Treppenhaus hinaufgeleiten wird…

Nun also leitet Matthias Pintscher mich hinauf und hinab. Heute aber, nein, recht eigentlich immer, lohnt sich der gefährliche Aufstieg.

Nils Mönkemeyer © Irène Zandel

Allein, um den jungstahlenden Bratschisten Nils Mönkemeyer zu erleben, mit hochaufgeworfenem Bogen, bei aller Bescheidenheit, die er mit tiefen Verbeugungen dem Publikum gegenüber, mit tieferen dem ja noch lebenden Komponisten Peter Ruzicka, beweist. Dessen „Depart“ klanglich überzeugt, ja, mitgerissen hat! Manchmal Unisono mit dem Klangkörper, ebenso unterstützt vom von mir so oft und beständig und rechtmäßig und rechtens hervorgehobenen Konzertmeisters – und über allem wacht Pintscher akribisch bis absolitär.

Dieses „Konzert für Viola und Orchester“?  Man muss es einfach erlebt haben! Da wechseln Sensibilität mit sturmgewaltigen Riffs, immer wieder brechen Soli hervor, oft spielt der Virtuose mit geschlossenen Augen, manchmal blickt er auf sein an den Ecken etwas zerfledderten Notenheftes – man kann sich dieser beeindruckenden Performance kaum, nein, nicht entziehen – und auch der Komponist dankt dem Bratschisten dann mit herzlich angedeuteter Verbeugung, gerade kommt der Tonsetzer aus dem Parkett hoch, und so ist die gegenseitige Ehrerbietung anrührend, ja, ergreifend:

Unisono war der Instrumentalist mit den Elphis zuweilen, zuweilen klagend, zuweilen ächzend – schön aber immer. Meine Sympathien hat er jedenfalls, ich schwöre! Bei Unterstützung von drei Klavieren und eines nun wirklich an Brillanz kaum zu überbietenden Orchesters keine Überraschung.

Noch einmal die „Stele für großes Orchester, op.33“ von György Kurtág. „Die originale griechische Schreibweise des Titels ΣΤΗΛΗ weist zurück in die Antike mit ihren aufrecht stehenden Grabsteinen, die den Namen des Toten tragen und oftmals Szenen aus seinem Leben abbilden – als Erinnerung und höchste Ehre, die einem Begrabenden widerfahren konnte.“ Nun, von Begraben gerade kein Spürchen. Jedenfalls: Dem Pianisten Per Rundberg, der ganze Passagen übernimmt, ist nicht genug zu danken! Das denkt der Dirigent offensichtlich auch…

Nocheinmal, auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Eine Darbietung, aus einem Guss und Form.

Ach, kann das Modernste schön sein! Und, dass ausgerechnet ich das sagen darf und kann – phänomenal genug.

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