Esa-Pekka Salonen © Credit: Mike-Ranta/Los Angeles Philharmonic
Internationales Musikfest Hamburg
Frenetischer Beifall für Dirigent und Orchester, das seinerseits dem Dirigenten großen Beifall spendete. Ein wunderbarer Konzertabend, den man sich nicht schöner hätte wünschen können.
NDR Elbphilharmonie Orchester
Tamara Stefanovich Klavier
Esa-Pekka Salonen Dirigent
Magnus Lindberg
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3
Zugabe:
György Kurtág
Pantomime / Zanken 2 / Játékok
– Pause –
Anton Bruckner
Sinfonie Nr. 6 A-Dur
Elbphilharmonie Hamburg, 5. Mai 2023
von Dr. Holger Voigt
Es waren die künstlerische Brillanz und technische Virtuosität der chinesischen Pianistin Yuja Wang, die den am 27. Juni 1958 geborenen finnischen Komponisten Magnus Lindberg dazu bewegten, sein neuestes, nunmehr drittes Klavierkonzert speziell für Yuja Wang zu komponieren.
Von dieser Verknüpfung sollte sich das Hamburg Elbphilharmonie-Publikum persönlich und unmittelbar überzeugen können – so war es zumindest vorgesehen. Leider erkrankte Yuja Wang und musste ihren Auftritt an diesem Abend absagen. Es grenzt fast an ein Wunder, dass es dem mit Magnus Lindberg lange Jahre befreundeten finnischen Komponisten und Dirigenten dieses Konzertabends, Esa-Pekka Salonen, geboren am 30. Juni 1958, gelang, die serbische Pianistin Tamara Stefanovich für die Idee zu gewinnen, sich innerhalb weniger Tage Vorbereitungszeit in das Werk einzuarbeiten und für die erkrankte Yuja Wang einzuspringen.
Dieses gelang ihr meisterlich und brachte den im Saal anwesenden Komponisten dazu, auf das Bühnenpodium zu stürmen und die Einspringerin voller Begeisterung zu umarmen.
Ob man es wollen würde oder nicht – für nahezu alle zeitgenössischen Neukompositionen schleicht sich früher oder später der Vergleichsmodus ein. Ungeachtet der Tatsache, dass man dadurch eine gebotene Unvoreingenommenheit über Bord wirft, scheint die Perzeption eines neuen Werkes durch Vergleich und Analogisierung beeinflusst zu werden.
Dieses gilt auch für das hier zur Aufführung gebrachte 3. Konzert für Klavier und Orchester von Magnus Lindberg, in welchem man unschwer Anklänge an Claude Debussy, Béla Bartók, Sergei Sergejewitsch Prokofjew oder auch Sergei Wassiljewitsch Rachmaninow zu erkennen glaubt. Es fällt auf, dass der Klavierpart unablässig auf „Augenhöhe“ der orchestralen Begleitung verbleibt und sich gegenüber dieser durchgehend behauptet – es gibt keine Dominanz des einen oder anderen. Dabei geht es mitunter sehr im Fortissimo zur Sache, insbesondere im Schlusssatz, was bereits frühzeitig im Verlauf des Konzertabends zu erkennen gab, wie gut das NDR Elbphilharmonie Orchester disponiert war.
Das dreisätzige Konzert – ohne Satzbezeichnungen – hat eine Dauer von etwa 35 Minuten und endet in einem furiosen Schlusssatz mit einem abrupten Schlussakkord. Großer Applaus für die Solistin, die eine pianistische Pantomime als Zugabe folgen ließ (György Kurtág: Pantomime/Zanken 2/Játékok).
Bei Bruckner denkt man nicht sofort an Hamburg. In einer Brahms-, Mahler-, Telemann-, Hasse-Stadt wie der Freien und Hansestadt Hamburg ist immer nur wenig Platz für Bruckner verfügbar gewesen. Das hatte zur Folge, dass das NDR-Sinfonie-Orchester – das heutige NDR Elbphilharmonie Orchester – nie in den Rang eines erstklassigen Bruckner-Orchesters vordringen konnte, wie es beispielsweise die Wiener Philharmoniker und die vier bayrischen Orchester (Münchner Philharmoniker, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Bayerisches Staatsorchester München und die Bamberger Symphoniker) sind.
Nur allzu oft gab es bei eher seltenen Aufführungen und verkürzten Probefrequenzen verpatzte Horneinsätze, Verspielfehler oder gar eine Blechbläserattacke auf die Streicher, die Bruckner hätte erschaudern lassen und den jeweiligen Konzertdirigenten sehr viel Einsatz abverlangten. Doch diese Erfahrungen gehören glücklicherweise der ferneren Vergangenheit an. Spätestens unter der Leitung von Alan Gilbert wurde ein qualitativ hochwertiger Grundstock gelegt, der es ermöglicht, auch in Hamburg in ein Brucknersches Klanguniversum vorzudringen, das keinen Vergleich zu scheuen braucht. Hinzu kommt, dass mit Gastdirigenten wie Yannick Nézet-Séguin oder Esa-Pekka Salonen aus jeder Bruckner-Partitur ein exzeptionelles musikalisches Klangereignis werden kann, dass auch an diesem Abend unter Esa-Pekka Salonen Staunen und Begeisterung hervorrief.
Die Laufbahn von Esa-Pekka Salonen verfolge ich seit dem Beginn der Neunziger Jahre mit großem Interesse, seit ich Bruckners Vierte („Die Romantische“) in der Hamburger Laeiszhalle mit dem Los Angeles Philharmonic Orchestra erleben konnte. Damals noch eine Art „Shooting Star“ unter den jüngeren Dirigenten, ist der nun bereits 64-jährige Finne eine feste Größe unter den ganz Großen, der eigentlich eine Dirigentenlaufbahn nur einschlug, um seine eigenen Kompositionen so zur Aufführung bringen zu können, wie sie ihm bei der Komponierarbeit vorschwebten. Tatsächlich sieht er sich auch heute noch in erster Line als Komponisten, nicht als Dirigenten. Wenn man seine Kompositionen näher betrachtet, scheinen seine kreativen Ideen nie zu versiegen. Das kann uns alle nur umso mehr erfreuen, denn wir können beides genießen.
Große Werke haben ihn nie verschreckt. Für mich persönlich ist seine Aufführung der 3. Sinfonie von Gustav Mahler mit dem Philharmonia Orchestra London unübertroffen; sie ist bei YouTube jederzeit abrufbar:
- Oktober 2017, Philharmonia Orchestra (mit 8 Pauken!)
https://www.youtube.com/watch?v=M622tyRUYKg
Bruckners Sechste („die keckste“) ist die einzige Sinfonie des Komponisten, die er nie nachbearbeitete, da sie ihm von Anfang an perfekt erschien. Es ist die letzte vor seinem Durchbruch als Komponisten mit der 7. Sinfonie E-Dur, die ihm auch unter seinen bisherigen Kritikern Respekt und Anerkennung einbrachte.
Formal erscheint sie in sich ruhend, ausgewogen und geradezu symmetrisch. Interessant ist die Tatsache, dass der Hörer sehr viel über die Kompositionsweise Bruckners erfährt, der ja mit füllbaren Rahmenstrukturen ähnlich einem Mind Map Template arbeitete. Das gewährleistet Übersicht und verhindert expressive Abenteuergänge. Das thematische Material ist vielfältig und zeigt bereits sehr deutlich, dass er bei der Motivverarbeitung oftmals abrupt innehält und mit einem weiteren Thema, zumeist eher versöhnlich klingenden, beginnt, als wolle er zum Ausdruck bringen, dass das Bisherige nur ein Vorschlag gewesen sei. Wer das heraushören möchte, benötigt eine kluge Orchesterführung, die diese Anteile klanglich nicht zu- bzw. überdeckt und dadurch unkenntlich macht.
Genau das gelang Esa-Pekka Salonen am heutigen Abend in geradezu traumwandlerisch sicherer Weise. Der wunderschöne zweite Satz konnte sich in voller Pracht entfalten, und selbst der Finalsatz wurde mit leuchtender Transparenz zu einem musikalischen Höhepunk.
Frenetischer Beifall für Dirigent und Orchester, das seinerseits dem Dirigenten großen Beifall spendete. Ein wunderbarer Konzertabend, den man sich nicht schöner hätte wünschen können.
Dr. Holger Voigt, 11. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
NDR Elbphilharmonie 5. Mai 2023-
Salonen (u.a. Bruckner 6.)
Konzert Rezension Dr. Holger Voigt, der u.a. schreibt:
“ … dass das NDR-Sinfonie-Orchester – das heutige NDR Elbphilharmonie Orchester – nie in den Rang eines erstklassigen Bruckner-Orchesters vordringen konnte, wie es beispielsweise die Wiener Philharmoniker und die vier bayrischen Orchester (Münchner Philharmoniker, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Bayerisches Staatsorchester München und die Bamberger Symphoniker) sind…”
Ich habe ab Anfang/Mitte der 1980er für annähernd 15 Jahre die Bruckner-Aufführungen mit dem NDR Orchester unter Günter Wand hören dürfen.
Das waren Sternstunden der Bruckner Interpretation – die weltweit Beachtung fanden (und mit internationalen Schallplattenpreisen ausgezeichnet wurden).
Das Hamburger Orchester wurde zu einem anerkannten Bruckner Orchester – und wie auch bei anderen Klangkörpern – hat sich hier eine gewisse Tradition erhalten.
Und es ist abhängig von der Bruckner-Affinität des Dirigenten, welche tradierten Qualitäten beim Orchester abgerufen werden (können).
Ich persönlich denke da an wenig inspirierende Interpretationen von den Dr. Voigt-pauschal-gepriesenen Orchestern: BPO- Rattle oder Münchner Philharmoniker-Gergiev.
Das NDR Orchester kann wahrlich auf eine grandiose Bruckner Zeit schauen. Sie irren, wenn sie hier von „nie“ sprechen.
Jens-Ulf Röver
Sehr geehrter Herr Röver,
herzlichen Dank für Ihre Anmerkungen zu meinem Beitrag zum Elphi-Konzert Lindberg/Bruckner.
Hohe Frequenz führt bei qualitativ ausgerichteter Arbeit zu Expertise. Vergleichbar dem Erlernen einer Fremdsprache hängen Sprachsicherheit, Fehlerfreiheit, semantische Eleganz und Überzeigungskraft bis hin zu Eloquenz von der Häufigkeit und konzentrativen Dichte der Befassungsintensität ab. Ein Orchester ist nach meinem Dafürhalten dann ein „Bruckner-Orchester“, wenn es regelmäßig eine hohe Aufführungshäufigkeit mit intensiver, probenreicher Erarbeitungspraxis absolviert. Über die Zeit entsteht dann so etwas Ähnliches wie ein klangliches Alleinstellungsmerkmal, das auch bleibt, wenn der Dirigent längst gegangen ist.
Ich stimme Ihnen hinsichtlich der Bewertung der Tätigkeit von Günter Wand uneingeschränkt zu. Er war eine exzeptionelle Ausnahmeerscheinung und für seine akribische Partiturarbeit bekannt. Erst mit mehr als 70 Jahren erreichte er seinen künstlerischen Zenit und begeisterte mit brillanten Aufführungen und Einspielungen der Werke von Brahms und Bruckner (und anderen). Er stand dem NDR Sinfonieorchester zwischen 1982 und 1991 als Chefdirigent vor und war anschließend bis zu seinem Tod 2002 auch noch als Ehrendirigent tätig. Das alles liegt allerdings mehr als zwanzig Jahre zurück, und unter seinem Nachfolger ist vieles des Erreichten leider wieder verloren gegangen. Es gab in der Folge in Hamburg mehr Mahler und weniger Bruckner zu hören, was dann auch deutlich zu hören war. Bruckner wurde zunehmend weniger gewünscht und nachgefragt, auch nicht von Dirigenten. Das allerdings scheint sich gegenwärtig wieder zu ändern, und das stimmt optimistisch.
Ich stimme Ihnen auch zu, wenn Sie anmerken, dass auch ein hervorragendes Orchester unter einem wenig inspirierten Dirigenten enttäuschen kann. Einen Sir Simon Rattle oder Waleri Gergijew würde ich auch nicht primär mit Bruckner (bei Rattle auch Mahler) in Verbindung bringen. Bei Yannick Nézet-Séguin oder Esa-Pekka Salonen sieht das ganz anders aus, da beide bis zum Anschlag inspiriert sind und fast jedes Orchester bis in die Haarspitzen hinein zu motivieren und fesseln vermögen.
Nochmals vielen Dank für Ihren Kommentar.
Dr. Holger Voigt