Meister ! Barenboim – eine Momentaufnahme aus Berlin

Öffentliche Meisterklasse mit Daniel Barenboim  Pierre Boulez Saal, 13. September 2020

Foto: Daniel Barenboim © Warner Music Germany / Ricardo Davila

Pierre Boulez Saal, 13. September 2020
Öffentliche Meisterklasse mit Daniel Barenboim

Nathalia Milstein, Klavier
Ludwig van Beethoven, Klaviersonate in G-Dur Op. 31 Nr. 1 (1802)

von Jürgen Pathy

„Before sound, comes silence“. Das sind die ersten Worte, die er an Nathalia Milstein richtet, nachdem die junge Meisterschülerin den Kopfsatz der G-Dur Klaviersonate zu Ende gespielt hat. Die Rede ist von Daniel Barenboim. Dirigent, musikalischer Völkerverbinder, Pianist. In einer Meisterklasse im Pierre Boulez Saal vermittelte der Meister sein Wissen über Beethovens Klaviersonate Nr. 16. Und das ist enorm.

Als Sohn jüdischer Eltern in Buenos Aires aufgewachsen, zählt der heute 77-Jährige nicht nur zu den größten seiner Zunft, sondern gilt vor allem als Koryphäe, wenn es um Beethovens Klaviersonaten geht. Drei Gesamt-Einspielungen, die er im Laufe seines Lebens aufgenommen hat, zeugen von der großen Meisterschaft, die Barenboims Weg zum Weltruhm geebnet haben.

Davon profitieren auch junge Pianisten, wie Nathalia Milstein. Die junge Russin, geboren in Frankreich, schließt derzeit ihr Studium bei Sir András Schiff an der Barenboim-Said Akademie ab; sie erhält den vollen Input. Obwohl sie technisch sehr gut spielt, gibt es noch Schwachstellen, an denen Barenboim zu feilen hat. Vor allem in puncto Ausdruck, Dynamik und Geschwindigkeit.

Piano ist nicht gleich Piano

„Dynamiken sind nichts Fixes“, betont Barenboim. Ein Piano vor einem Pianissimo habe anders zu klingen als eines danach. Damit wir den Unterschied hören können, müsse es vor einem Pianissimo ein wenig lauter sein.  „Du spielst es genau umgekehrt“. Nathalia Milstein nimmt es gelassen. Ebenso das Beharren, den Beginn des ersten Satzes einige Male zu wiederholen. Gearbeitet wird an den ersten paar Takten, unter anderem an der Synkope. Für Barenboims Geschmack betone sie diese viel zu wenig. Außerdem passt ihm der Einsatz nicht: „Es ist zu spät, das tut mir richtig weh.“

Nathalia Milstein © 2018 Anne BIED Photographe

Ebenfalls wenig erfreut zeigt er sich über das ständige Wippen der jungen Russin, die beim Spielen hin und herwackelt wie ein Segel im Wind: „Bei Musik mit derart vielen Synkopen ist Gelassenheit sehr wichtig.“ Aber nicht nur das, die Tempi sind ihm ebenso nicht ganz recht. „Wenn Beethoven sechzehntel schreibt, dann muss man die im selben Tempo spielen“, hebt er klipp und klar hervor. Da gäbe es keinen Raum für ein accelerando oder ähnliche Stilmittel. Dass es da allgemein eine gewisse Freiheit gäbe, wisse er zwar, dennoch sähe er es anders – worauf er jedoch nicht näher eingeht. Barenboim ist bekannt als Verfechter eines Stils, der die Werktreue einer all zu freien Interpretation vorzieht. Wenn man schon frei interpretiert, dann muss das alles einen guten Grund haben. Nicht nur aus Lust und Laune, weil es schöner klingt. Das ist Barenboims Credo.

Die große Meisterschaft der Triller

Hat es ihn während des ersten Satzes noch durchgehend auf seinem Sitz gehalten, den er in der ersten Reihe bezieht, springt Barenboim beim zweiten Satz nach nur wenigen Sekunden auf. Die Triller passen ihm überhaupt nicht. Um es respektvoll zu formulieren, lobt er die junge Pianistin zuerst: „Natascha, du weißt, wie sehr ich dich schätze – aber du spielst einen Triller, wie ein Maschine.“ „Hier darfst du, hier musst du sogar die Geschwindigkeit variieren. Aber nicht zu sehr“, fügt er hinzu. Es müsse kein Rubato sein, „aber etwas koketter, um melodisch zu klingen“, sollte es gespielt werden.

© Christian Mang

Bei all seinen Worten spürt man förmlich, wie ernst es ihm ist. Wie sehr Daniel Barenboim die Musik und vor allem seinen Beethoven liebt. Ganz besonders als er nach einiger Zeit wieder dazwischen ruft: „Das ist zu schnell – du musst sehr behutsam umgehen mit Herrn Beethoven!“ Nathalia Milstein folgt des Meisters Rat, saugt die Tipps auf, wie ein trockener Schwamm. Das schlägt sich in einem schöneren Ton nieder. Leichter, graziler und süßer klingt er nun, dieser bezaubernde langsame Satz, den Beethoven mit Adagio grazioso notiert, und der so mozartesk klingt, wie kaum ein anderer aus seinem Schaffen.

Barenboim honoriert es sofort. „Sehr schön, jetzt bist du ein wirklicher Sopran“, lobt er, um zu betonen, wie Milstein nun aufblüht und das Klavier zum Singen bringt. Nur um die junge Pianistin im dritten Satz, einem Rondo, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen: „Viel zu früh das Crescendo – damit du hast die Wirkung sozusagen verschenkt.“

Dem Publikum schien es zu gefallen. Hinter Mund-Nasenschutzmasken, die vor dem Eingang verteilt wurden, folgten die rund hundert Besucher, darunter auch Igor Levit, der Lehrstunde, wie man Beethovens Musik zum Leben erweckt.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 20. September 2020, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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