Foto: Kate Lindsey als Orlando © Wiener Staatsoper GmbH / Michael Pöhn
Wiener Staatsoper, 11. Dezember 2019
Olga Neuwirth, Orlando, eine fiktive musikalische Biografie in 19 Bildern
Nach dem gleichnamigen Roman von Virginia Woolf
von Julia Lenart
Fluide Klänge, Feminismus, Transgender-Aktivisten und Kapitalismuskritik. Unglaublich, aber wahr: All das kann man derzeit an der Wiener Staatsoper erleben. Olga Neuwirths Orlando bricht mit allen Konventionen, die die Institution Oper in ihrer langen Entstehungsgeschichte hervorgebracht hat – und sie trifft damit ins Schwarze.
Orlando (basierend auf dem gleichnamigen Roman von Virginia Woolf) bringt einiges an feministischer Gesellschaftskritik mit. Seine Prämisse: Die Kategorie Geschlecht ist ein gesellschaftliches Konstrukt, das es zu überwinden gilt. Das sehen wir schon zu Beginn, als der junge Orlando sich den gesellschaftlichen Zwängen eines Männlichkeitsideals des 16. Jahrhunderts ausgeliefert sieht und sich in die Poesie flüchtet.
Problematisch wird es, als Orlando nach einem tranceähnlichen Schlaf als Frau erwacht. Es hat sich nichts verändert: Orlando ist immer noch dieselbe Person, mit denselben Ambitionen, denselben Interessen, denselben Fähigkeiten, demselben Verstand. Nur sein Geschlecht hat sich gewandelt und damit die Art und Weise, wie Orlando von der Umwelt wahrgenommen wird. Was für Orlando als Mann selbstverständlich war, ist für sie als Frau undenkbar. Erschüttert über diese Einsicht entwickelt sie sich zur Kämpferin für Gleichbehandlung.
Fluidität ist ein Topos, der sich durch das gesamte Werk zieht. Orlando ist ein Gesamtkunstwerk, das in seiner Konzeption die Gattung Oper sprengt. Olga Neuwirth schafft in ihrer Musik fluide Klangformen, „androgyne Klänge“, die – wie Geschlechtsidentitäten – nicht starr sind, sondern zwischen den Extremen changieren. Jeder Klang ist wandelbar, die Musik ist in ständiger Bewegung, kaum greifbar und doch verständlich.
Langsam einschleichende Streicher lassen die Musik zu einer glühenden Klangwolke heranwachsen, bis sie plötzlich im Nichts verschwindet. Der Zuhörer wird von Klängen regelrecht umschlungen, wenn sich die Musiker durch den gesamten Saal bewegen und Samples aus allen Richtungen eingespielt werden.
Dirigent Matthias Pintscher führt das Orchester der Wiener Staatsoper mit Nachdruck und Gefühl für das Detail. Es gelingt, eine spannungsvolle Atmosphäre zu schaffen – kein leichtes Unterfangen bei dieser komplexen Komposition. Olga Neuwirth testet die Grenzen des Orchesters aus. Da finden sich um Vierteltöne verstimmte Geigen ebenso wie Synthesizer und eingespielte Samples, die als solche oft gar nicht erkennbar sind. Sogar die Gesangsstimmen werden gesampelt, und es bleibt immer wieder im Unklaren, was real ist und was nicht.
Die Sänger müssen bei Orlando einiges an Bandbreite beweisen. Kunstvoll gestaltete Melismen fließen über zu Popgesang, zu Rap, zu Sprechtext. In der Hauptrolle des/der Orlando brilliert die Mezzosopranistin Kate Lindsey. Sie überzeugt nicht nur mit der weichen Strahlkraft ihrer Stimme, sondern auch durch ihre Wandelbarkeit. Ebenso treffsicher und musikalisch reizvoll zeigt sich der Countertenor Eric Jurenas als Guardian Angel. Anna Clementi führt als Erzählerin durch das Werk. Hervorzuheben ist an dieser Stelle die beeindruckende Leistung des Kinderchores, dem das Werk einiges abverlangt.
Mit Transgender-Artist Justin Vivian Bond (Orlandos Kind) hat sich Olga Neuwirth eine für die Oper zunächst ungewöhnlich scheinende Besetzung ins Boot geholt. Bond hat keine Gesangsausbildung (was man einstweilen auch merkt), doch darum geht es gar nicht. Wenn Bond einen Fuß auf den Souffleurkasten setzt und eine Rede gegen das Patriarchat und die binäre Geschlechterordnung hält, sorgt das für Gänsehaut. Bond bringt die Thematik von Orlando auf den Punkt – Geschlechtergrenzen sind nicht starr, sondern verschiebbar. Die Aktion stößt (wie so vieles in dieser Oper) bei dem alteingesessenen Staatsopernpublikum auf Entsetzen.
Als fluid kann man auch das Bühnenbild (Roy Spahn) bezeichnen, das sich – gemäß der Oper – in ständiger Bewegung befindet. Treibende Kraft sind die Videoproduktionen (Will Duke), wie man sie aus früheren Werken Neuwirths kennt. Bewegliche Leinwände erzeugen gelegentlich die Optik einer unendlichen barocken Guckkastenbühne und bieten zugleich eine Fläche für moderne Videokunst. Die Kostüme von Comme des Garçons fügen sich passend ein: Bunt und ausgefallen streifen sie die Geister der Epochen, durch die sich Orlando bewegt.
Am Ende sind es vielleicht doch zu viele Botschaften, die Olga Neuwirth übermitteln will. Der Zuseher wird von politischen Statements überrannt, was eher zu Reaktanz als zu Mobilisation anregt: Da sind die Konsumgesellschaft, der Kapitalismus („Work, work, money, money“), Trump („Us first“), das Klima (Kinderchor: „Hope?“). Dennoch kann man vor dem gewaltigen Werk Olga Neuwirths nur den Hut ziehen. Es ist ein Gesamtkunstwerk, das sich gegen starre Ordnungen (sowohl künstlerisch als auch gesellschaftspolitisch) hinwegsetzt und ein Zeichen für Freiheit und Selbstbestimmung setzt.
Julia Lenart, 12. Dezember 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dirigent Matthias Pintscher
Regie Polly Graham
Video Will Duke
Bühne Roy Spahn
Kostüme Comme des Graçons
Live-Elektronik, Sounddesign Markus Noisternig, Gilbert Nouno, Clément Cornuau, Olga Neuwirth
Orlando Kate Lindsey
Narrator Anna Clementi
Guardian Angel Eric Jurenas
Queen/Purity/Friend of Orlando’s Child Constance Hauman
Modesty Margaret Plummer
Sasha/Chastity Agneta Eichenholz
Shelmerdine/Greene Leigh Melrose
Orlando’s Child Justin Vivian Bond
Orchester der Wiener Staatsoper
Synthesizer Florian Müller, Thomas Bartosch
Bühnenorchester der Wiener Staatsoper
Chor der Wiener Staatsoper
Chorakademie und Opernschule der Wiener Staatsoper