Vier schillernde Choreografien packen meine Sinne

Prinzregententheater, München, 23. Juni 2023

Programm:

All long dem day

Choreographie, Bühne, Kostüme Marco Goecke
Musik Nina Simone: Sinnerman
Licht Udo Haberland
Einstudierung Fabio Palombo

Ballettmeister Olivier Vercoutère
Bayerisches Junior Ballett München


L’éternité immobile

Choreographie, Bühne, Kostüme Nicolas Paul
Musik John Tavener, The Hidden Face
Licht Nicolas Paul, Christian Kass

Ballettmeisterin Séverine Ferrolier
Bayerisches Staatsballett

The habit

Choreographie Fran Diaz
Musik Cucina Povera, Ben Vince
Bühne Fran Diaz, Manuel Cornelius
Kostüme Fran Diaz
Licht Christian Kass

Ballettmeister Javier Amo
Bayerisches Staatsballett

Le grand sot

Choreographie, Bühne, Kostüme Marion Motin
Musik Maurice Ravel: Boléro
Licht Marion Motin, Judith Leray
Einstudierung Caroline Bouquet

Ballettmeister Emilio Pavan
Bayerisches Staatsballett


von Frank Heublein

Das bayerische Staatsballett eröffnet an diesem Abend die Opernfestspiele 2023 mit der Premiere von Sphären.01. Es ist ein neues Konzept für die Ballettfestspielpremiere, in dem ein Choreograf oder eine Choreografin einen Abend kuratiert und mit in diesem Fall drei anderen jüngeren Künstlern ein Programm zusammenstellt. In diesem Jahr kuratiert Marco Goecke.

Sphaeren, M. Goecke, S. Sakadales © Nicholas MacKay

Goeckes Choreografie aus dem Jahr 2015 erarbeitet er für die Opernfestspiele mit dem Bayerischen Junior Ballett München. Nina Simones Song Sinnerman hat einen sehr schnellen Beat. Die Tanzfiguren der Tänzerinnen und Tänzer verschmelzen mit der Musik, werden eins für mich. Der große ausschwingende Armbogen ist ein Trommelwirbel. Was aussieht wie ein Moment des Nichtbewegens ist in Wirklichkeit das Ende oder der Anfang einer sehr präzisen Bewegung. Ich bin atemlos und will zugleich jeden Augenblick aufspringen, um mitzutanzen.

Sphaeren, N. Paul, E. Ibraimova © Nicholas MacKay

Nicolas Pauls Choreografie L’éternité immobile (die unbewegliche Ewigkeit) beginnt überraschend. Alle acht Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne. Bewegungslos in der Stille. Einen gefühlt langen Moment lang. Das erste sichtbare Bewegungsmuster führt Tänzerin Elvina Ibraimova die ganze Choreografie durchgehend aus und bildet einen Gegenpol zu den anderen sieben, die allein oder meist in kleinen Gruppen vor oder als Schatten hinter einer Leinwand langsam und sehr kontemplativ tanzen zur John Taveners Komposition „The Hidden Face“ für Countertenor, Oboe und Streicher. Ich kenne Jan Garbareks Saxofonsound und wundere mich wie ähnlich diese Oboe zu seinem Sopransax klingt. Damit gewinnt die tänzerischen Bewegungen einen in mich einbrennenden Ausdruck. Das Ende findet zum Anfang: die sieben Tänzer und Tänzerinnen schreiten langsam zur Seite und die Gegenpoltänzerin führt ihre Bewegung aus hinein in die Stille.

Sphaeren, F. Diaz, Ensemble BSB © Nicholas MacKay

In Fran Diaz Choreografie The habit  (Die Gewohnheit) bestimmt ein Ring den Raum, der etwa 5 Meter Umfang hat und anfangs auf Körperhöhe herabgelassen ist. Im Lauf der Choreografie wird er in die Höhe gezogen. Durch die Lichtgestaltung setzt er weiterhin räumliche Punkte. Hier gewinnt meine Aufmerksamkeit die solistische Bewegung zur afrikanisch anmutenden musikalischen Rhythmik, die sich immer wieder zusammenballt, zusammenfließt in einen Körper, der aus den acht Tänzern und Tänzerinnen besteht.

Sphaeren, M. Motin, Ensemble © Nicholas MacKay

Den Beginn der umfassenderen Choreographie Le grand sot (Der große Narr) Marion Motins bildet den Abschluss des Abends. Der Umgang mit dem sehr bekannten Boléro von Maurice Ravel ist frech und ironisch. Zuerst einmal sehe ich die Tänzer und Tänzerinnen in zwei Gruppen sportlich und bunt bekleidet am linken und rechten Bühnenrand warm machen. Dann geht es los. Mit einer Tänzerin, die ihren Hintern im beginnenden Rhythmus des Boleros in Richtung Publikum schwingt. Mit einer Bewegung, die die Gleichartigkeit nach links und rechts taktmäßig korrekt bricht. Toller Hintern, tolle Bewegung, Auflachen im Publikum. Ein Tänzer steigt ein. Ebenfalls ein herrliches Exemplar eines wippenden Hinterns.

Ich hatte den Boléro am Abend zuvor im Kino am Ende des Kinofilms Divertimento ganz anders kontextuiert gehört und gesehen. Das Tolle ist, ich höre die Musik über die Choreografie wieder neu, wieder anders. Meine musikalische Wahrnehmung wird so gebrochen, dass ich für mich Neues entdecke. Was für ein – zusätzliches – Geschenk! Das primäre ist die homogen tanzende Truppe. Die sich wiederholende Rhythmik pro Körper verschmilzt zu einer einheitlichen „Über“-Bewegung.

Tosende Begeisterung am Ende für alle vier Tanztruppen. Ein auch mich begeisternder Abend. Ich entdecke neben dem mir bekannten und künstlerisch geschätzten Marco Goecke zwei mir unbekannte und spannende Choreografen, Nicolas Paul und Fran Diaz. Ganz besonders halte ich persönlich Ausschau nach Werken Morion Motins. Die kreative Kraft, die ich bei ihr verspüre, macht mir große Lust auf mehr.

Ein Einwurf zu Marco Goecke. Die Art der Auseinandersetzung mit der Kritikerin in Hannover und sein (von mir sehr wahrscheinlich unvollständig wahrgenommener) Umgang damit im Nachhinein war in meinen Augen ein kapitales Fehlverhalten. Eine Last, die er zu tragen hat. Ich hoffe, er lernt daraus und kann das zeigen. Ich hoffe weiter, Tänzer, Tänzerinnen und Häuser geben ihm die Chance, es zu zeigen.

Verletzungen mit Verletzungen zu kontern: Künstler und Künstlerinnen machen durch Jahrhunderte hindurch sichtbar: Rache ist ein alle Seiten vertilgendes Motiv.

Frank Heublein, 25. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung

All long dem day

Choreographie, Bühne, Kostüme Marco Goecke
Musik Nina Simone: Sinnerman
Licht Udo Haberland
Einstudierung Fabio Palombo

Ballettmeister Olivier Vercoutère
Bayerisches Junior Ballett München

Tänzerinnen und Tänzer

Chiara Bacci, Maxine Morales, Lara Bircak, Lorien Ramo Ruiz, Jamie Constance, Samuel López Legaspi, Tyler Robinson, Luca Massara, Soren Sakadales, Auguste Marmus, Zofia Wara-Wasowska

Werkangaben

Uraufführung der Choreographie im Rahmen von The Contemporaries. Im Hier und Jetzt bei der Staatlichen Ballettschule Berlin im Schillertheater Berlin, 13. Juli 2015

Erstaufführung mit dem Bayerischen Junior Ballett München beim Bayerischen Staatsballett im Rahmen von Sphären.01 | Goecke im Prinzregententheater München, 23. Juni 2023

Musikangaben

Nina Simone (1965): Sinnerman. Verwendete CD-Aufnahme: Feeling Good – The Very Best of Nina Simone (1994): Track 17 (Live-Aufnahme in New York 1965). Label: SONY BMG / LC 13989.

L’éternité immobile

Choreographie, Bühne, Kostüme Nicolas Paul

Musik John Tavener, The Hidden Face

Licht Nicolas Paul, Christian Kass

Ballettmeisterin Séverine Ferrolier

Bayerisches Staatsballett

Tänzerinnen und Tänzer

Severin Brunhuber, Matteo Dilaghi, Madeleine Dowdney, Elvina Ibraimova, Eline Larrory, Andrea Marino, Ariel Merkuri, Bianca Teixeira

Werkangaben

Uraufführung der Choreographie beim Bayerischen Staatsballett im Rahmen von Sphären.01 | Goecke im Prinzregententheater München, 23. Juni 2023

Musikangaben

John Tavener (1996): The Hidden Face, komponiert für Countertenor, Oboe und Streicher. Verwendete CD-Aufnahme mit Michael Chance (Countertenor), Nicholas Daniel (Oboe) und dem Ensemble Fretwork: The Hidden Face (2001): Track 1. Label: harmonia mundi.


The habit

Choreographie Fran Diaz

Musik Cucina Povera, Ben Vince

Bühne Fran Diaz, Manuel Cornelius

Kostüme Fran Diaz

Licht Christian Kass

Ballettmeister Javier Amo

Bayerisches Staatsballett

Tänzerinnen und Tänzer

Carollina Bastos, António Casalinho, Dani Gibson, Phoebe Schembri, Robin Strona, Rafael Vedra, Marta Navarrete Villalba, Shale Wagman

Werkangaben

Uraufführung der Choreographie beim Bayerischen Staatsballett im Rahmen von Sphären.01 | Goecke im Prinzregententheater München, 23. Juni 2023

Musikangaben

Cucina Povera, Ben Vince (2022): ∞ (track 2),  Muurahaiskeko (track 5). Im Album: There I see everything. Label: Ecstatic. Ben Vince (2019): Sensory Crossing (track 3), Tower of Cells (track 4).

Im Album: Assimilation. Label: Where to now.

Le grand sot

Choreographie, Bühne, Kostüme Marion Motin

Musik Maurice Ravel: Boléro

Licht Marion Motin, Judith Leray

Einstudierung Caroline Bouquet

Ballettmeister Emilio Pavan

Bayerisches Staatsballett

Tänzerinnen und Tänzer

Maria Chiara Bono, Mariia Malinina, Rhiannon Fairless, Elisa Mestres, Jasmine Henry, Florian Ulrich Sollfrank, Konstantin Ivkin, Chelsea Thronson, Nikita Kirbitov, Anastasiia Uzhanskaia, Vladislav Kozlov, Margaret Whyte

Werkangaben

Uraufführung der Choreographie mit dem Collectif Les Autres im Centre culturel Charlie Chaplin, Vaulx-en-Velin (Lyon), 7. Oktober 2021

Erstaufführung beim Bayerischen Staatsballett im Rahmen von Sphären.01 | Goecke im Prinzregententheater München, 23. Juni 2023

Musikangaben

Maurice Ravel (1928): Boléro. Orchesterstück. Verwendete CD-Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Pierre Boulez: Ravel – Bolero (1994): Boléro. Track 15. Label: Deutsche Grammophon.

Ensemble Phoenix Munich, Thomas Campion Author of Poetry and Song  Max-Joseph-Saal, Residenz München, 14. Mai 2023

Ja, Mai Festival: Il ritorno / Das Jahr des magischen Denkens Cuvilliés-Theater, München, 7. Mai 2023

Toshio Hosokawa (*1955), Hanjo, Oper in einem Akt Haus der Kunst, München, 5. Mai 2023

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