Foto © Maximilian Probst
Vor wortwörtlich verschlossenen Augen funkelt die Winterreise in vorweihnachtlicher Glühweinstimmung. Sehen tut man nichts, einzig die seidensanfte Schubert-Musik in Form eines kammermusikalischen Gesamtkunstwerks lässt die musikalische Seele grenzenlos phantasieren. Kann Schubert nicht einfach immer so klingen?
Orchester im Treppenhaus
Thomas Posth, Musikalische Leitung
Esther Valentin, Mezzo-Soprano
Luise Helm, Sprecherin
Norman Matt, Sprecher
Werke von Franz Schubert und David Lang
Elbphilharmonie, Hamburg, 14. November 2023
von Johannes Karl Fischer
Schlange stehen, Maskenpflicht, kennen wir alles. Moment, ist doch eigentlich schon vorbei? Stimmt, und von einer Mund-Nasen-Bedeckung ist auch keine Rede mehr. Gott sei Dank. Stattdessen heiß es: Augen zu!
Richtig: Im Foyer vor dem kleinen Elbphilharmonie-Saal kriegen alle ein schwarze Augenmaske, völlig fern des Tageslichts geht’s dann mit verdeckten Augen auf die Plätze. Kein Handytippen, kein vorkonzertliches Instagramfoto. Reinigung für die müd gemachte Großstadtseele. Wie eine wunderschön stille Nachtfahrt durch die sanft bewaldete steierische Hügellandschaft.
Sehen tut man nichts, (fast) das ganze Konzert lang. In ihrer reinsten und feinsten Form fließt die Musik den Ohren zu, Esther Valentins seidensanfte Schubert-Stimme segelt durch den Saal wie in einer majestätischen Klosterkathedrale an einem frühen Januarmorgen. Die Winterreise, eigentlich ein zutiefst melancholisches und fast schon dauer-depressives Werk, erwacht zu neuem Leben. Als würde man, Hand in Hand mit seiner Geliebten, über einen warmen Weihnachtsmarkt spazieren. Die holden Düfte deftiger Maronen drängen die Nase hinauf, der schneegeküsste Glühwein wärmt die winterkalten Wangen.
Diese einzigartig träumerische Stimmung wäre für sich ein wahrer Glücksgriff im alltäglichen Großstadtwahn. Wäre da nicht noch diese geniale, farbenfrohe Orchestrierung – besser gesagt kammermusikalische Bearbeitung – der Schubert’schen Klavierkunst. Das Glockenspiel funkelt blitzend wie Schneeflocken, ein singendes Akkordeon-Solo zaubert eine festliche Fußgängerzonenstimmung auf die Bühne. Selbst in seinen süßesten Träumen wird man sich einen weihnachtlichen Winterspaziergang kaum phantasievoller vorstellen können, da wurde wirklich jede hinterste Ecke der Klavierpartitur mit Liebe durchleuchtet. So wird der Schubert’sche Liederzyklus zum Gesamtkunstwerk!
Gerade dazu gehört noch eine Handlung… und sorry, das Schubert-Libretto ist dafür einfach zu abstrakt. Völlig fließend wird hier noch eine etwas bedrückende Krimi-Handlung in den Liederzyklus mit eingeflochten: Eine 28-jährige Japanerin wird im nordamerikanischen Präriewinter tot aufgefunden, allen Spekulationen zu trotz entpuppen die Ermittlungen schließlich den Selbstmord der jungen Frau. Entlassen statt befördert, statt verlobt von ihrem Geliebten verlassen… Dem Druck der familiären und gesellschaftlichen Erwartungen konnte sie einfach nicht mehr standhalten.
Die Winterreise hat ihren melancholischen Geist eben doch nicht ganz verloren. Und ein bisschen gesellschaftliche Sozialkritik schwingt noch mit…
Mit leicht konzertkulturkritischem Beigeschmack tönt übrigens auch der Schlussapplaus: Statt dem klassischen „wir kommen fünf Mal auf die Bühne während alle klatschen“ schwingt sich das Ensemble nach der Winterreise noch flott in einen kleinen Tango. Eine Zugabe? Nein, eine rundum namentliche Vorstellung des Ensembles. Das Publikum hat’s kapiert und klatscht ausnahmsweise mal am rechten Ort. Es müssen eben nicht immer die gleichen alt-eisernen Regeln gelten…
So lebendig, so warm und winterlich habe ich die Winterreise noch nie gehört. Ein melancholischer Romantik-Liederzyklus funkelt plötzlich in vorweihnachtlicher Glühweinstimmung… kann Schubert nicht einfach immer so klingen?
Johannes Karl Fischer, 15. November 2023 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Franz Schubert, Die Winterreise, Florian Boesch, Bariton, Theater an der Wien, 29. Januar 2022