Das ORF-Radiosymphonieorchester unter Chefdirigentin Marin Alsop sorgt für Gänsehaut im Wiener Konzerthaus

ORF-Radiosymphonieorchester Wien, Marin Alsop,  Wiener Konzerthaus, 16. Oktober 2020

Foto: © Theresa Wey

Wiener Konzerthaus, 16. Oktober 2020

ORF-Radiosymphonieorchester Wien
Marin Alsop: Dirigentin

Hans Werner Henze, Los Caprichos. Fantasia per orchestra (1963)
Gustav Mahler, Symphonie Nr. 5 (1901-02)

von Julia Lenart

Obwohl der Große Saal des Wiener Konzerthauses in letzter Zeit mehr an einen Fleckerlteppich erinnert, bleibt die Begeisterung des Publikums ungebremst. Mit Spannung erwarten die Zuhörer die Musiker des ORF-Radiosymphonieorchesters und deren Chefdirigentin Marin Alsop.

Das Programm ist – wie für das RSO üblich – sehr abwechslungsreich. Während im zweiten Teil Mahlers Fünfte wartet (eine Symphonie, die dem eifrigen Konzertbesucher längst keine ungewohnte Kost mehr ist), sieht sich der Zuhörer im ersten Teil mit einer avantgardistischen Fantasie Hans Werner Henzes konfrontiert.

Henzes Musik ist zwar keine leichte Kost, dafür aber umso interessanter und nicht selten politisch zu verstehen. Es verwundert kaum, dass der Sozialist Henze sich von Zeichnungen des spanischen Künstlers Francisco de Goya aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert inspirieren ließ, die ganz im Sinne der Aufklärung stehen. De Goya musste die Radierungen nach kurzer Zeit sogar zurückziehen, da sie zu sehr aneckten. In seinen neun Caprichos verwandelt Henze die Monster aus de Goyas Kunst in unheimliche Musik. Es ist eine Satire, ein Versteckspiel, das die wahren, abgründigen Persönlichkeiten der Menschen zutage bringt, während scheinbare Ungeheuer Ausmalungen der reinen Fantasie bleiben.

ORF Radio-Symphonieorchester Wien. Foto: ORF / Thomas Ramstorfer

Das RSO beweist sich als Rundfunkorchester, man hört seine langjährige Erfahrung mit Stücken abseits des klassisch-romantischen Repertoires. Dynamisch und mit akribischer Genauigkeit führt das Orchester durch die einzelnen Szenen, die fließend, beinahe unbemerkt ineinander übergehen. Dennoch heben die Musiker die teils vollkommen entgegengesetzten Melodien voneinander ab, setzen klare Kontraste. Der Zuhörer spürt eine ständige Spannung, eine Ungewissheit, ein Drängen nach den nächsten Tönen, Melodien, Akkorden. Als die Spannung schließlich im Nichts versickert, bleibt selbst dem konservativsten Hörer nichts anderes, als den Musikern zu applaudieren.

Obgleich Mahlers Fünfte bei weitem kein neues Werk für das eingeschworene Konzerthauspublikum darstellt, – es ist immerhin schon die 47. Aufführung – freut man sich doch darauf. Die Fünfte stellt gewissermaßen den Anbruch einer neuen Schaffensphase Mahlers dar, seine Musik wird absoluter, monumentaler. Anstatt gewöhlich vier Sätzen, gliedert Mahler die Fünfte in fünf Sätze, eingeteilt in drei Abteilungen.

Beinahe so federleicht wie Henzes Caprichos geht dem Orchester diese Symphonie von der Hand. Ein strahlender Trompetenruf leitet den Trauermarsch ein. Schwermütig mutet der erste Satz an, ganz im Sinne seiner Beschreibung: Trauermarsch. In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt. Erst der zweite Satz reißt mit voller Energie und Dynamik aus der Lethargie heraus. Es gibt nichts auszusetzten an dem dynamischen, stets Spannung bewahrenden Spiel des RSO.

Dem Scherzo merkt man seine Tücken an. Mahler selbst war sich der Schwierigkeit dieses Satzes, mit seinen vielen (teils überraschenden) Wendungen, bewusst. Doch das RSO meistert diese Hürde solide. Das berühmte Adagietto, welches Luchino Visconti für seinen Film Tod in Venedig ausführlich einsetzte, stellt nicht die einzige, aber sicherlich eine der prägendsten Gänsehaut-Stellen dieses Abends dar. Harfen- und Streicherklänge schweben erhaben durch den Saal, umhüllen den Zuhörer sanft und lassen ihn in eine andere Welt entfliehen. Bevor die Melodien schließlich im Nichts verhallen, weckt das Horn das Publikum aus seiner Trance und leitet damit in morgendlich-erwachender Stimmung den letzten Satz (Rondo-Finale. Allegro) ein.

Mit viel Schwung geht schließlich die Symphonie zu Ende: Man ist fast enttäuscht, dass sie schon aus ist. Kaum sind die letzten Töne verhallt, setzt das Publikum zu tosendem Applaus und Jubelrufen an. Das heutige Konzert lässt Vorfreude auf die nächsten Konzerte des ORF-Radiosymphonieorchesters aufkommen.

Julia Lenart, 17. Oktober 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Klaviermatinee mit Rudolf Buchbinder, Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 11. Oktober 2020

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