Andreas Jankowitsch, Wiener Kammerchor © Armin Bardel
Die Neue Oper Wien präsentiert mit „Cachafaz“ ein ganz und gar außergewöhnliches Werk: inhaltlich verstörend, musikalisch originell und witzig, szenisch interessant umgesetzt, hervorragend ausgeführt.
Oscar Strasnoy
Cachafaz
Eine Produktion der Neuen Oper Wien
Cachafaz: Andreas Jankowitsch
Raulito: Felix Heuser
Polizist: Jakob Loibl
amadeus-ensemble wien
Wiener Kammerchor
Musikalische Leitung: Walter Kobéra
Chorleitung: Jakob Loibl
Jugendstiltheater im Otto-Wagner-Areal, Wien, 18. März 2025
von Dr. Rudi Frühwirth
„Cachafaz“, der Gauner, ist der Spitzname eines Bewohners im heruntergekommenen Mietshaus Conventillo in Montevideo, wo die immer hungrigen Randexistenzen hausen. Cachafaz und sein Geliebter Raulito, den er aus der Gosse geholt hat, sind in der katholischen Umgebung doppelt geächtet und verachtet. Der Sehnsuchtsort der beiden ist Buenos Aires, die Stadt, in der man so herrlich Tango tanzen kann.
Die literarische Vorlage ist die „barbarische Tragödie“ von Copi, eigentlich Raúl Damonte Botana, einem argentinischen Zeichner und Autor, der 1987 im Pariser Exil verstorben ist. Das Libretto schildert das Schicksal des Paars in höchst drastischer Sprache, spart nicht mit Zoten und Obszönitäten. Die Oper ist wie die Vorlage eine Tragödie, hat aber auch ihre absurd-witzigen Facetten, die musikalisch wie szenisch die bedrückende Handlung auflockern.
Als Cachafaz eines Tages eine Wurst stiehlt, kommt der Polizist. Zuerst kann Raulito ihn mit Hinweis auf seinen Onkel, der Kommissar ist, besänftigen; als er wiederkommt, ersticht Cachafaz den Bullen, bekommt dabei aber eine Kugel ab. Die Insassen des Conventillo fürchten zuerst die Rache der Obrigkeit; als aber Cachafaz vorschlägt, denn Bullen auszuweiden und aufzuessen, stimmen sie letztlich zu – der Hunger lässt sie das stärkste Tabu brechen.

Im zweiten Akt geht das Schlachten weiter, bis sich herausstellt, dass Cachafaz den Kommissar getötet hat, sodass er und Raulito nun schutzlos dastehen. Dann kippt die Handlung ins Surreale. Das tote Fleisch beginnt sich zu bewegen, der Chor der toten Seelen verdammt die beiden dazu, sich am Fleisch die Finger zu verbrennen. Als die Polizei schließlich wiederkommt, stirbt Cachafaz an einer Kugel im Herzen, Raulito lässt sich von ihm erdolchen. Vom Tango träumend gehen die beiden ins Nichts.
Der Komponist Oscar Strasnoy, hierzulande kaum bekannt, stammt ebenfalls aus Argentinien, arbeitet aber vorzugsweise in Europa. Die Musik zur Oper greift neben Jazzelementen zahlreiche Eigenarten südamerikanischer Tanzmusik auf, allen voran solche des Tango, ist aber weit davon entfernt, in irgendwelche Klischees zu verfallen.
Strasnoys musikalische Sprache ist ausgesprochen originell, rhythmisch hochkomplex, von häufig wiederholten Phrasen durchsetzt und genial instrumentiert. Es kommen nur wenige Instrumente zum Einsatz: Violine, Klarinette, Trompete, Posaune, Gitarre (elektrisch und akustisch), Kontrabass, Schlagwerk, Keyboard und Hammondorgel.
Unter der bewährten, exakten Stabführung von Walter Kobéra erzeugen die Solisten des amadeus-ensemble wien ein faszinierendes, abwechslungsreiches Klangbild. Angeregt durch den Schluss des ersten Akts, hat Strasnoy für die Überleitung zum zweiten Akt die Ouverture zu Verdis „Forza del destino“ neu und unglaublich witzig instrumentiert, ein reines Vergnügen für Opernfans. Köstlich sind auch die musikalischen Zitate in der Partitur: wenn zum Beispiel Raulito die erbeuteten Schinken, Rücken und Nieren aufzählt, ist im Orchester Leporellos „Registerarie“ nur leicht verfremdet zu hören.
Andreas Jankowitsch als Cachafaz und Felix Heuser als Raulito werden szenisch wie musikalisch nicht wenig gefordert. Jankowitsch verkörpert die dominante Figur manchmal drohend, manchmal abweisend, immer stimmgewaltig. Felix Heuser verleiht dem submissiven Gegenspieler stimmliche Leichtigkeit und Flexibilität, kann aber auch Raulitos echte Zuneigung zu Cachafaz überzeugend ausdrückend.
Im ersten Akt müssen die beiden Protagonisten auf einer mit schwarzer Folie abgedeckten schwabbeligen Masse herumturnen, von der man eigentlich nicht genau wissen will, woraus sie besteht. Im zweiten Akt stellt sich heraus, das sie ein riesiger Klumpen Fleisch ist – ein durchaus passender Einfall der Bühnenbildnerin Monika Biegler. Der einzige Weg zur Außenwelt ist ein Steg, über den die Polizei eindringt und über den Cachafaz und Raulito am Ende diese trostlose Welt verlassen. Biegler hat auch die Kostüme entworfen: armselige Fetzen für Cachafaz und Raulito, für den Chor der Nachbarinnen und Nachbarn zuerst anonyme schwarze Overalls, dann Fleischerschürzen und Gummihandschuhe. Neben dem Bühnenbild betont auch die Lichtregie von Norbert Chmel die emotionale, materielle und spirituelle Ausgestoßenheit des Paares.

Der Chor spielt wie in der griechischen Tragödie eine äußerst wichtige Rolle, sowohl als Gegenspieler der Protagonisten wie auch als Kommentator. Er ist auch in sich gespalten, da Nachbarinnen und Nachbarn meist unterschiedliche Standpunkte vertreten. Der Wiener Kammerchor ist stimmlich makellos; Chorleiter Jakob Loidl, der auch den Polizisten gibt, hat seine Sängerinnen und Sänger perfekt einstudiert.
Regisseur Benedikt Arnold verlangt den Protagonisten beeindruckenden Körpereinsatz ab und macht dadurch die anfänglich konfliktbeladene, zwischendurch trügerisch-optimistische, zum Schluss resigniert-verzweifelte Beziehung des Paares augenfällig. Er setzt auch den Chor sehr dynamisch ein, immer in feiner Abstimmung mit dem Rhythmus und dem Fluss der Musik.

Szene und Musik verschmelzen in der Produktion zu einer verstörenden Karikatur, die unsere Tabus schonungslos hinterfragt und die dunklen Seiten unserer Gesellschaft erbarmungslos offenlegt. Das Publikum zeigte sich zuerst betroffen, feierte dann aber alle Mitwirkenden enthusiastisch. Nach dem einhelligen Erfolg von „Cachafaz“ wäre es höchst erfreulich, wenn auch andere Opern Strasnoys in Wien auf dem Spielplan auftauchen!
Dr. Rudi Frühwirth, 19. März 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Rudis Klassikwelt 7: Cerha, Schönberg, Gemalte Musik klassik-begeistert.de, 13. März 2025
Rudis Klassikwelt 5: Bläserquintette des 20. Jahrhunderts klassik-begeistert.de, 20. Juni 2024