Pathys Stehplatz (43) – Dresscode und Regietheater: Herrscht an der Wiener Staatsoper seit neuestem Sodom und Gomorra?

Pathys Stehplatz (43) – Dresscode und Regietheater: Herrscht an der Wiener Staatsoper seit neuestem Sodom und Gomorra?

Staatsoperndirekor Bogdan Roščić © Lalo Jodlbauer

Hotpants, Flip-Fops und behaarte Männerbeine. An der Wiener Staatsoper gehts zu wie am Arbeiterstrandbad, empfinden zumindest einige, die im ehrenwerten „Haus am Ring“ seit Jahren ein– und ausgehen. Dazu Kaffee in Pappbechern und mitgebrachte Jausen, die genüsslich in den Logen verspeist werden. Anstand und Benehmen: Fehlanzeige! Glaubt man den kritischen Stimmen, habe sich die Situation seit der Direktion Bogdan Roščić verschlimmert. Dass die Realität nicht ganz so düster aussieht, liegt in der Natur der Sache. Roščićs neuer Weg, die „Oper 4.0″, ist einigen ein Dorn im Auge. Da nutzt man jede Angriffsfläche mit Handkuss.

von Jürgen Pathy

Manieren gehören dazu. In einem Opernhaus sind sie das A & O. Nur: Welcher Definition die unterliegen, ist eine rein subjektive Angelegenheit. Während Ruhe und Hygiene für einige schon reichen, fordern andere deutlich mehr. „Ein Sakko und eine Stoffhose“, müsse bei jedem männlichen Besucher sein. Kurze Hosen, T-Shirts und Jeans – ein Affront, der in einem Opernhaus nichts zu suchen habe. Die Begründung ist oft die gleiche: Das erfordere der Respekt, den man den Künstlern gegenüber schuldig sei. Ein Vorwand, der sich bei genauer Betrachtung schnell in Luft auflöst.

Ruhe ist im Grunde die einzige und größte Ehrerweisung, die ein Besucher einem Künstler entgegenbringen kann. Generell schon: alleine die Anwesenheit. Alles andere beruht nur auf Traditionen. Auf Sitten, die sich seit Jahrzehnten von einer Generation zur nächsten übertragen haben. Schlips und Anzug – gewiss: Schadet keinem, ein Anblick, den viele abseits der Bühne sicherlich mit dem Begriff „Oper“ in Verbindung bringen. Sei auch allen gegönnt, die sich gerne in Schale werfen, um dadurch den besonderen Anlass zu unterstreichen.

Nur – ganz wichtig: nicht als Regel oder Grundbedingung. Niemand sollte an der Wiener Staatsoper erscheinen müssen, als wäre er zur Audienz beim Kaiser geladen. Muss man zum Glück auch nicht. Die Monarchie ist längst Geschichte. Dresscode gibt es an der Wiener Staatsoper nur bedingt.

Sakko, Jeans oder reichen Flip-Flops: Kleidungsvorschriften an der Wiener Staatsoper

Um Kleidung, die dem Anlass entsprechend sei, bittet man höflich. Steht auf kleinen Schildern, die unter Vitrinen im Haus verteilt sind – fast so winzig, als würde man dem Dresscode keine Bedeutung schenken. Auf der homepage der Wiener Staatsoper gibt es auch keine genaueren Hinweise. Erst nach längerer Suche – Google is your friend – stößt man auf eine Unterseite, von der nicht mal klar ist, ob sie zur offiziellen Homepage der Wiener Staatsoper zählt.

Der Wortlaut dort: „Unterhemd als Oberteil, extrem breitlöchrige Jeans oder kurze Hosen bei Männern“, sind unerwünscht. „Personen in unvollständiger Bekleidung, wie z.B. keine Schuhe oder Flip-Flops“, könne der Zutritt „trotz gültiger Eintrittskarte“, ebenso verwehrt werden. Um Missverständnisse gleich zu vermeiden – ACHTUNG: mit der Betonung auf KANN. Schließt im Umkehrschluss ein MUSS aus.

Wie man das umsetzt, liegt im Ermessen des Personals. Das gibt sich bei der Einhaltung der „Minimalregeln“ große Mühe. Das kann jeder bestätigen, der schon Mal stundenlang in der Warteschlange vor den Stehplatzkassen verbracht hat. Mädels in Hotpants hat man da immer ausgesiebt. Besucher in zerfetzten Jeans ebenso höflich zur Tür verwiesen, mit der Bitte, ordentlich adjustiert wieder zu erscheinen. War zumindest früher so, als es noch keine Möglichkeit gegeben hat, die Stehplatzkarten online zu erwerben. Man darf annehmen, dass die Vorgaben sich seit der neuen Direktion nicht drastisch verändert haben dürften.

Dresscode bei Roščić oder Meyer: business as usual – sonst ist vieles anders

Dass der Sittenverfall seit Bogdan Roščić ausgeufert sei, ist sowieso ein Gerücht. Kategorie: übelster Populismus, um noch mehr Salz in die Wunde zu streuen. Der gebürtige Serbe, der seit 2020 das Ruder übernommen, genießt nicht bei allen den besten Ruf. Seine neue Linie, der „Jugendwahn“, wie es einige bezeichnen, stößt teils auf enormen Widerstand.

No more shitty Regietheater-Produktionen, Roščić must leave. Das sind einige Parolen, die in den „Sozialen Medien“ kursieren und den Unmut gegen die Art und Weise signalisieren, wie Roščić das radikale „Facelifting“ umsetzt.

Im Mittelpunkt der neuen Marketing-Strategie: Eine Flut an Neuproduktionen, die zumindest unter der Kategorie „zeitgenössische Inszenierungen“ einzuordnen sind. Im einigen Fällen aber als „Regietheater“ bei Partitur-Diktatoren komplett durchfallen. Produktionen also, die sich zu sehr vom Inhalt des Librettos entfernen. Bei denen „selbstverliebte Kunstverächter“ jedwede Ästhetik vermissen lassen. Und im schlimmsten Fall, eigenmächtig Dinge hinzufügen, streichen oder verändern.

Dieser Trend ist an der Wiener Staatsoper definitiv zu beobachten. Ob da Barrie Kosky in das Schema passt, bezweifelt im Grunde kaum jemand. Sein „Don Giovanni“ ist ein rasantes Feuerwerk von Musiktheater, seinen „Figaro“ könnte man getrost zur Pause verlassen. Bei Simon Stone, der mit seinen sogenannten „Überschreibungen“, die Sujets in die Gegenwart projiziert, scheiden sich die Geister. Konzept und Ideen: für manche klug. Die Umsetzung: erbärmlich. Mir kann seine „Traviata“ gestohlen bleiben.

Was Claus Guth mit Puccinis „Turandot“ anrichten wird, davor fürchten sich einige schon jetzt. Am 7. Dezember folgt die Premiere. Und bei Tatjana Gürbaca hoffen manche, dass sie nach ihrem einfältigen „Il Trittico“ Retro-Klamauk-Einstand lieber wieder nach Mainz zurückkehrt, wo die Regisseurin als Intendantin das Staatstheater geleitet hat.

Das Ziel dieser Neuorientierung, dieses „Relaunches“ der Wiener Staatsoper: Den Altersdurchschnitt der Besucher deutlich zu senken. Dieses Unterfangen genießt oberste Priorität. Als klare Niederlage hatte Bogdan Roščić es im österreichischen TV bezeichnet, würde er das Ziel nach seiner ersten Direktion nicht erreicht haben. Zwei Jahren bleiben ihm noch, dann endet seine erste Amtszeit. Die zweite ist schon unter Dach und Fach. Bis 2030 hat man Roščićs Vertrag bereits verlängert.

Regietheater: Ein Ärgernis, das an der Wiener Staatsoper noch funktioniert

Das Dilemma für all seine Gegner: Die „Oper 4.0″ scheint zu funktionieren. Ein Wort, das Roščić so übrigens nie geprägt haben will. „Ich habe den Ausdruck in Bezug auf Oper nie verwendet.“ Das Haus füllt er damit aber wieder. Nach turbulenten Zeiten während des Höhepunkts der Corona-Pandemie, ist die Wiener Staatsoper seit geraumer Zeit wieder restlos ausverkauft. Bis in die letzten Ecken des Hauses – auf der Stehplatzgalerie ganz seitlich – drängen sich die Massen, um Violetta beim Digital-Detox auf der Alm zu beobachten.

Und nicht nur das: Roščić schafft es teilweise auch, die Jugend in die Vorstellungen zu locken. Schwarz auf weiß gibt es zwar noch keine Zahlen. Die muss Roščić noch liefern. Lässt man aber seinen Blick so durchs Haus schweifen, erweckt es den Eindruck, als wären vermehrt junge Gesichter unterwegs.

Sogar bei der Einführungsmatinee zur „Turandot“-Neuproduktion. Sonntags, 11:00 Uhr morgens, eigentlich eine Uhrzeit, zu der viele noch mit dem „Kater“ des Vorabends kämpfen dürften, erspäht man einige, die eine Karte für die Generalprobe ergattern könnten. Unter 27 müsse man dafür sein, enttäuscht Roščić alle, die noch keine Eintrittskarten gesichert haben. Alle 6 Vorstellungen ausverkauft.

Bei Kalibern wie Jonas Kaufmann und Asmik Grigorian kein Wunder, könnte man den nackten Zuschauerzahlen entgegensetzen. Solange Roščić diese Asse aus dem Ärmel zieht, trösten sich viele über die Inszenierungen hinweg. Den Gelegenheitsbesuchern sowie den Touristen könnten Regie und Besetzung sowieso egal sein – rein nach dem Motto: Hauptsache einmal die Wiener Staatsoper von innen sehen.

Spannend wird es allerdings, sollte das Pendel allzu heftig in eine Richtung ausschlagen. Noch hält sich die Waage zwischen „Regietheater“ und klassischen Inszenierungen zumindest annähernd das Gleichgewicht. Glaubt man Gerüchten, könnte aber schon die nächste Uralt-Inszenierung vor dem Aus stehen. 2025 soll die „Tosca“-Inszenierung von Margarethe Wallmann dran glauben müssen. Nach über 640 Vorstellungen dann der nächste Dinosaurier, der dem „Jugendwahn“ zum Opfer fiele.

Schreitet der sukzessive Abbau dieser Klassiker in diesem Tempo voran, könnten Flip-Flops und Hotpants also das geringste Ärgernis sein. Die Meute scharrt schon mit den Hufen. Im Grunde ein legitimer Prozess, den man nicht mehr zur Gänze stoppen wird. Inszenierungen sollen sich weiter entwickeln. Den Mittelweg zu finden, ist wie immer das Schwierige. „Kommt’s in Jeans, aber g’waschen müsst’s sein“, ist ein guter Ansatz bei der Kleidung. Den hatte mal Robert Meyer, ehemals Direktor der Volksoper Wien, ausgerufen. Bei der Regie sollte ähnliches gelten. Tobt euch aus, aber haltet das Gleichgewicht. Es muss noch genügend Platz bleiben für „Märcheninszenierungen“, wie sie Zeffirelli, Schenk & Co auf die Bühne der Wiener Staatsoper gestellt haben.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 3. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

2 Gedanken zu „Pathys Stehplatz (43) – Dresscode und Regietheater: Herrscht an der Wiener Staatsoper seit neuestem Sodom und Gomorra?“

  1. Lieber Jürgen Pathy,

    toller Beitrag! Und was für ein Thema! Das moderne Regietheater ist ein weites und schwieriges Feld – ausufernd. Darüber könnte man ewig diskutieren. Manchmal gelingt es ja und so manches Mal unterstützt es sogar den Werkgedanken, intensiviert und erhöht die Musik. Leider nur nicht allzu oft.
    Auf die Turandot bin ich auch gespannt.

    Herzliche Grüße
    Nicole Hacke

  2. Liebe Frau Hacke,

    vielen dank für die Blumen. Morgen ist es soweit. Dann wird Claus Guths „Turandot“-Inszenierung, die irgendwo zwischen Siegmund Freuds Bank und seiner Fantasie gelandet sein dürfte, der Öffentlichkeit präsentiert. Zur Generalprobe hat der ORF ja schon einen ausführliche Bericht gebracht. Schau ma Mal, was der Regisseur samt Hauptpartien da morgen treiben werden. Um ehlich zu sein: Puccinis „Märchenoper“ zählt musikalisch absolut NICHT zu meinen Favoriten, egal ob klassisch inszeniert oder zeitgenössisch.

    Liebe Grüße
    Jürgen Pathy

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert