Foto: © Ralph Larmann
Elbphilharmonie Hamburg, 01. Oktober 2019
Philharmonia Orchestra
Dirigent: Esa-Pekka Salonen
Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 9 D-Dur
von Dr. Holger Voigt
Es gibt nicht gerade viele Gelegenheiten, den finnischen Dirigenten Esa-Pekka Salonen live zu erleben. Schafft man es, eine Karte zu ergattern, kann man sicher sein, eine Sternstunde der Symphonik zu erleben. Auch bei seinem jetzigen Konzert in der Hamburger Elbphilharmonie war dieses der Fall. Der Zuhörer erlebte Musik in völlig neuartigen emotionalen Dimensionen. Seine unglaublich akribisch erarbeiteten Werkinterpretationen sind singulär und führen oft zu neuartigen Einsichten in das jeweils aufgeführte Werk.
Esa-Pekka Salonen, der sich auch als Komponist einen Namen gemacht hat, gehört nicht zu den „jungen Wilden“ in der Dirigentenszene, die nur allzu oft Schlagzeilen machen. Er ist weit entfernt vom Mythos eines modernen Pultstars, wie beispielsweise Teodor Currentzis, Kirill Petrenko, Yannik-Nézet Séguin, Andris Nelsons oder Gustavo Dudamel und viele andere. Gleichwohl ist er unter Kennern ein absoluter Geheim-Tipp und das schon seit Jahrzehnten.
Nachdem ich ihn Anfang der Neunziger Jahre mit dem von ihm geleiteten Los Angeles Philharmonic Orchestra in der Hamburger Laeiszhalle erleben durfte, befindet er sich ständig in meinem Radar. Damals glänzte er – noch in seinen Dreißigern! – mit einer Bruckner 4 („Die Romantische“), die ihresgleichen suchte. Wie konnte ein so junger Dirigent dieses bewerkstelligen?
Heute wissen wir, dass er sich schon frühzeitig mit den Werken Bruckners und Mahlers befasst hatte und dieses kontinuierlich weiterführte. Wer Esa-Pekka Salonen noch nicht kennen sollte bzw. sich ein genaueres Bild machen möchte, dem sei wärmstens empfohlen, bei YouTube nach der 3. Symphonie von Gustav Mahler zu suchen, die meines Erachtens zusammen mit der von Bernard Haitink dirigierten die absolut beste ist.
Der selten lächelnde, introvertiert wirkende Dirigent imponiert als zutiefst ernsthafter Explorer in Sachen Wahrheitsfindung in der Symphonik. So etwas geht nur, wenn ihm die Musiker auf diesem Weg folgen. Seit 2008/2009 leitet Esa-Pekka Salonen dass in London ansässige Philharmonia Orchestra, das er kontinuierlich zu einem Weltspitzenorchester geformt hat, auch wenn es schon vor seiner Ära eines der besten Orchester war.
Wie die Musiker ihm bei seinen komplexen Herausforderungen folgen, konnte man in der Elbphilharmonie sehen, spüren, hören. Beim Schlussapplaus nutzten die Musiker alle verfügbaren Gerätschaften einschließlich der eigenen Füße, um ihm zu danken, dass er sie dort hingeführt hatte. So etwas beobachtet man selten.
Die von Gustav Mahler 1910 in Toblach fertiggestellte 9. Symphonie D-Dur wird vermutlich kaum jemand beim ersten Hören in sein Herz schließen können. Nach der Uraufführung am 26. Juni 1912 in Wien unter der Leitung seines Freundes Bruno Walter herrschte im Publikum zunächst weitgehende Ratlosigkeit. Mahler konnte die Uraufführung nicht miterleben, da er bereits am 18. Mai 1911 verstorben war; er hat sie also nie aufgeführt gehört. Otto Klemperer sagte über sie, dieses sei Mahlers letztes Werk, seine letzte Symphonie und zugleich auch seine Bedeutendste. Das wusste auch Bruno Walter, der sich bewusst war, wie mutig Mahler in dieser Symphonie mit veränderten Tonalitäten und nie zuvor gehörten musikalischen Strukturen das Tor zur Moderne weit geöffnet hatte und nachfolgenden Komponisten wie Alban Berg, Arnold Schönberg oder auch Anton Webern bis hin zu Richard Strauss den Weg wies.
Die Neunte ist sein letztes vollendetes Werk. Da er den Zugriff des Schicksals bei der Zahl 9 fürchtete – viele Komponisten kamen nicht über eine Neunte Symphonie hinaus – arbeitete er skizzenhaft bereits an seiner Zehnten. Es half ihm leider nichts – die Neunte blieb sein Vermächtnis-Werk.
Esa-Pekka Salonen hat sich in dieses mysteriöse Werk sehr lange Zeit geradezu hinein versenkt und es in jegliche Richtung ausgelotet. Dabei hat er viele Teile dechiffrieren können, aber nur allzu häufig seine gewonnenen Einsichten wieder revidieren müssen. War dieses Werk eine Symphonie des Todes? Oder gar Mahlers verbitterte Schlussabrechnung mit dem Schicksal? Leid, Schmerz und Tod sind in allen seinen Symphonien ständig präsent, werden sogar in den lyrischen Abschnitten musikalisch dialektisch mitgeführt. Das wäre also nichts Neues in seinem symphonischen Schaffen.
Salonen hat selbst darauf hingewiesen, dass Gustav Mahler bei seiner Arbeit sehr ausgiebig von der Technik der Über-Instrumentation Gebrauch gemacht hat, die er im Zuge der weiteren Bearbeitung dann wieder „ausgedünnt“ habe. Hier aber, in der Neunten, ist davon wenig zu finden. Wollte er es also so, und nicht anders, stehenlassen? Er ist ja nicht über der kompositorischen Arbeit verstorben, sondern erst Monate nach ihrer Fertigstellung. Also muss es so gewollt sein.
Das Thema „Tod“ spielt in dieser Symphonie eine rahmenbildende Rolle. Genauer gesagt handelt es sich aber eher um das Thema „Sterben“, also um den eigentlichen Übergang zum Tod. Er schrieb eigenhändig in die Partitur die Bezeichnung „ersterbend“, was auf diese Intention verweist. In der Musik findet sich das an mehreren Stellen, und insbesondere am Schluss. Hier wird es sogar zur Kernbotschaft verdichtet. Eine Lautmalerei des Sterbens, Sterben in Noten? Wir erinnern uns: Im „Lied von der Erde“ gibt es einen ähnlichen Schluss („…Ewig… ewig…“) und auch Richard Strauss scheint in seinen „Vier letzten Liedern“ (1948) den Vorgang des Sterbens musikalisch zum Ausdruck gebracht zu haben: („…wie sind wir wandermüde – ist dies etwa der Tod?…“).
In der Neunten Symphonie kehrt Mahler wieder zur Viersätzigkeit zurück. Die Symphonie beginnt in D-Dur, endet aber in d-Moll. Die Tonarten-Zugehörigkeit wird kompositorisch für Mahler fast unwichtig.
Der erste Satz wähnt den Zuhörer zunächst in einem vertraut erscheindenden Mahler-Universum. Scheinbar aus dem Nichts entsteht ein Motiv, das wie ein Marsch imponiert. Das wäre nichts Ungewöhnliches bei Mahler, doch zeigt sich bald, dass dieser Marsch eher ein Schreiten ist, fast wie bei einer Prozession oder einem Leichenbegängnis.
Salonen dirigiert in vertrautem Territorium mit weichen, ausladenden Armbewegungen, die eine grundharmonische Sphäre signalisieren. Das Orchester versteht es meisterhaft, diesem Ausdruck zu verleihen. Bläsermotive tragen die Stimmung, wirken aber bereits warnend. Die Klangatmosphäre wirkt auf einmal unheilvoll. Streicher und Bläser entwickeln aus der Tiefe kommend eine Atmosphäre der Unruhe. Urplötzlich zerbricht die Idylle, das Orchester setzt unter Einschluss des Schlagwerkes zu einem Fortissimo-Crescendo an, der Marsch wird abgebrochen, die bläserbetonten Motive scheinen miteinander zu kämpfen, bis dann wieder alles zur Ruhe kommt. Eine Flöte signalisiert einen Ausdruckswechsel – auf einmal ist der Marsch wieder da, leise zwar, aber nicht zu überhören.
Das Eingangsthema wird wieder aufgenommen, Hörner und Streicher übernehmen, doch scheint nicht klar, wo es hingehen soll. Wieder kulminiert das Motivgeschehen in einem Fortissimo, in welchem das Eingangsmotiv nur noch angedeutet vernehmbar ist. In einem steten Wechselspiel der Instrumentengruppen wird der Marsch wieder zum beherrschenden Grundrhythmus. Ein lyrisches Motiv, von Horn und Streichern getragen, von der Flöte flankiert, entsteht und führt zu einem versöhnlichen Satzausklang, der – fast wie ein Vorgriff auf den Symphonieschluss – immer leiser werdend verdämmert. Dabei klingt das Horn wie ein wehmütiges Abschiedssignal.
Es ist beeindruckend zu hören und zu sehen, wie das Orchester in den Abschnitten welchselnder Dynamik stets die zutreffende Klangfärbung entfaltet, dabei ist nichts zu laut oder zu leise, alles ist in sich ausgeglichen. Ein meisterlicher erster Satz.
Im zweiten Satz wähnt man sich abermals in gewohntem Mahler-Universum. Der einsetzende Ländler – auch das ist letztlich ein Zitat aus vergangenen symphonischen Werken – wirkt vertrauenerweckend und friedfertig. Aber auch das entpuppt sich als eine musikalische Chimäre. Es treten bald die ersten Dissonanzen auf, der Ländler wird rauher, und melodisch passt auch nicht mehr alles zusammen. Dennoch gibt es dazwischen einzelne lyrische Passagen, die aber nur von kurzer Dauer sind.
Mit einem Trompetensignal bricht der dritte Satz – das Rondo-Burleske – in jegliche noch verbliebene Beschaulichkeit ein. In diesem dritten Satz bricht fast eine ganze Mahler-Welt in sich zusammen. Altbekannte Themen aus früheren Werken werden kurz angerissen, schnell wieder verworfen, kommen in verzerrter Form wieder zu Gehör, so dass man sie nicht gleich als solche wiedererkennen kann. Man meint, ein völlig verzerrtes Posthorn-Motiv zu vernehmen, das aber rasch wieder zur Seite geschoben wird. Die Motive kommen sprunghaft, fast wie in einem Fiebertraum mit exzidativer Ideenflucht – ist das ein Abgesang auf das früher verwendete motivische Material? Wollte Mahler sich in auswegloser Bitterkeit von diesem Material distanzieren, ja gar befreien?
Dass all diese Zuspitzungen so beeindruckend herauskamen – dafür muss man Dirigent und Orchester höchste Anerkennung zollen. Man war fast froh, als dieser Albtraum mit einem betonten Pauken-gestützten Tutti-Akkord endete. Glücklicherweise kein einziger Huster in dieser so wichtigen Satzpause.
Der vierte Satz zeigte sich wieder versöhnlicher. Auch das melodische Material zeigt hier wieder, zu welch berührenden thematischen Ausdrucksformen Mahler imstande war. Doch nach einer orchestralen Themenverdichtung fällt schließlich alles scheinbar in sich zusammen. Die Motive verarmen an Dauer und Amplitude und reduzieren sich dabei zu immer leiser werdenden Streicherakkorden, wunderbar langsam von Salonen vorgegeben und gehalten. Es packte jeden, wie sich alles Melodische in ein Nichts zurückzieht. Die Zuhörer sind gebannt – niemand hustet. Der letzte Streicherstrich kaum wahrnehmbar: Fast eine Form eines Hörtestes, verklingt die Symphonie in die Unendlichkeit des Nichts. Beklommenheit und Stille. Nur noch Stille.
Ergriffenes Verharren des Dirigenten. Nach einer langen Zeit der Stille bricht sich der Beifall Bahn. Die Zuhörer springen auf und klatschen stehend. Von überall Bravo-Rufe, Fußtrampeln und ein sichtlich erschöpfter, aber zutiefst berührter Dirigent, der sich mit einer tiefen Verbeugung bei seinem Orchester bedankt. Allen ist klar: Salonen hat in bewundernswerter Weise den Weg frei gemacht, dieses Werk verstehen zu lernen. Es war eine wahre Sternstunde der Symphonik, wie es sie nur ganz, ganz selten gibt. Einfach grandios!
Dr. Holger Voigt, 1. Oktober 2019, für
klassik-begeistert.de