Mit »innigster Empfindung« möchte Beethoven den »Heiligen Dankgesang eines Genesenen« aus einem seiner späten Streichquartette vorgetragen wissen – und so möge er dieses Konzert eröffnen.

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Dirigent Kent Nagano  Elbphilharmonie, Hamburg, 8. Oktober 2023

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg © Felix Broede

Elbphilharmonie, Hamburg, 8. Oktober 2023

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Dirigent Kent Nagano

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Heiliger Dankgesang

III. aus dem Streichquartett Nr. 15 a-Moll op. 132 für Streichorchester bearbeitet von David Robert Coleman

Soloquartett:
Daniel Cho, Sebastian Deutscher, Naomi Seiler, Thomas Tyllack

Helen Grime (*1981)
River (Uraufführung) für Kammerorchester
Auftragswerk des Philharmonischen Staatsorchesters und des Orchestre de Paris

I. Bright, with energy
II. Very still, gently swelling

George Benjamin (*1960)
Sudden Time für großes Orchester

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 36

I. Adagio molto – Allegro con brio
II. Larghetto
III. Scherzo. Allegro
IV. Allegro molto

von Harald Nicolas Stazol

Dass Kent Nagano es vermag über allem zu schweben, steht ja außer Frage, aber im Moment frage ich mich, warum der Orchester-Willkommensapplaus aufbrandet, ist doch die Bühne der Elphi bis auf Notenpulte und Bestuhlung leer, ohne jeglichen Musiker? Ich glaube kurz an ein Out-of-Body-Experience, wie sie mir nicht fremd sind, vor allem wegen der weltpolitischen Ereignisse – bis ich Bewegung ganz oben unter der Decke sehe, und begreife – da dachte ich längst, mich überrascht gar nichts mehr – dass die Eröffnung des 2. Philharmonischen Konzertes gewissermaßen direkt unterm Dach links des Großen Saales stattfinden und von ihm herabklingen wird:

Mit einem Spätwerk Ludwig van Beethovens, seinem „Heiligen Dankgesang“ für Streichquartett, vielmehr des III. lyrischen Satzes, in einer Bearbeitung von David Robert Coleman aus dem Jahr 2021 für Streichorchester, dessen so feinsinnig vorgetragenem Solo Quartett wieder dieser wunderbare Konzertmeister Daniel Cho unseres Staatsorchesters vorsteht, dessen außergewöhnliche Solistenrolle ich in der letzten Saison ja schon einmal, und offenbar zu Recht hervorgehoben habe:

„In einem „Spät Stil, wie er in dieser Form und Radikalität kaum seinesgleichen in der europäischen Musikgeschichte haben dürfte. Zu diesem Spät Stil und zu seinen Auswirkungen gehört auch, dass Beethoven keinerlei Rücksicht auf die Hörgewohnheiten der zuhörenden Zeitgenossen genommen hat“, wie uns das Programmheft an die Hand nimmt – mir scheint es ergreifend und einfach sehnend-traurig, und vor den Fernseh-Bildern, die uns gerade erreichen, rein zufällig zwar, aber auf wundersame Koinzidenz genau richtig. Punktlandung schon mal.

Denn obschon nach dem Dauerregen gestern, heute, am Matinee-Morgen, die Sonne ganz ungewohnt strahlt, hellblauer Himmel, Kaiserwetter, höre ich im Foyer, weder vorher im Hinaufstreben, noch in der Pause, noch nach dem Ende dieses nicht unschwierig zu hörenden Vormittags kein Lachen, bemerke keine übertriebene Heiterkeit, die Stimmen sind gedämpft, oder ich bin übersensibel – nur die 2. Symphonie von Beethoven, mit der man enden wird, gibt ja so etwas wie einen optimistischen Ausklang, aber ich greife vor.

Man hat sich ja, ich habe mich geradezu in die Philharmonie gerettet, die so satellitenhaft-hermetisch sein kann, wie eine kristallin-verwunschene Zauberkugel.

Nach der träumerischen Einführung aus dem obersten Stockwerk, die Uraufführung des Auftragswerkes „River“ einer jungen schottischen Komponistin, der Helen Grime. Eine programmatische Eloge auf unseren Fluss, natürlich wellenartig, ein Werk, das in fast monothematischer Weise und Weisen um einen Ton herumwogt, und den Weg der Elbe vom Ursprung in Tschechien bis in die Nordsee beschreibt, nur etwas gewöhnungsbedürftig ist – so modern, dass der Herr vor mir sich manchmal die Ohren zuhält, was aber auch an einer Übersensibilität liegen kann, sein Hinterkopf ist in einem Streifen geschoren – aber ja, das Oszillieren der Akkorde in zwei Sätzen ist äußerst anspruchsvoll und kompliziert und verlangt dem Hamburger Staatsorchester alles ab.

Nagano dabei energetisch, er nutzt jeden Quadratzentimeter seines Podestes – bei Beethoven wird er zweimal energisch mit dem linken Fuß aufstampfen, er wirkt energiegeladen und alterslos und ist meines Erachtens en pleine forme. Dreimal kommt die Grime, Jahrgang ’81, auf die Bühne, ich sitze so nah, dass ich den Duft ihres überbrachten, prächtigen Bouquets schnuppern kann, glücklich-strahlend sieht sie aus, und die Hamburger freuen sich mit ihr!

In der Konzertpause treffe ich einen alten Freund, Montgomery, den ich vor 20 Jahren kennenlernte, sinnigerweise am selben Ort, als die Elphi noch der Kaispeicher war, und unten ein ziemlich exklusiver Beachclub samt Pool war, das „Ranga Villas“ – ich sage ja, der Ort allein hat mystischen Charakter: „Das war doch sehr intensiv und eindrucksvoll?“ stimmen wir beide überein, während ich überlege, die Wiederholung der Darbietung am Montagabend noch einmal zu genießen.

Zu der nun folgenden Tondichtung „Sudden Time“ des George Benjamin möchte ich mich nicht äußern, aber ich frage mich schon, ob sie in fernerer Zukunft noch zu hören sein wird – eine These, die ich bei manch Modernen mit dem Herausgeber dieser Seiten teile… Jedenfalls kümmert Benjamin sich ebenfalls keine Note lang um tradierte Hörgewohnheiten des zeitgenössischen Publikums, um meine jedenfalls nicht. Vorne hält man sich wieder die Ohren zu. Der Applaus ist dann auch enden wollend.

Aber nun die Erlösung, auf die wir alle gewartet haben. Die Zweite des Ludwig van, immer schon ein Lieblingsstück, die untypischste aller seiner Sinfonien: In der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ von Mai 1804 wurde sie gepriesen als eine „bewunderungswürdige Summe origineller und zuweilen höchst seltsam gruppierten Idee.“ Tant pis, das Dirigat ist einfühlsam, das Orchester mal rasant, mal hochsensibel, fast immer brillant, man hofft nur, dass die Hornisten in der zweiten Aufführung eingespielter sein werden – aber im fulminanten 4. Satz ist das alles vergessen, dem Finale, das den Morgen überstrahlt und ganz und gar mitreißt und wohlstimmt – sofort, als der Taktstock gesenkt wird, brechen folgerichtig die Bravorufe los.

So kann ein Sonntag so anspruchsvoll wie gefällig gerne öfter beginnen!

Harald Nicolas Stazol, 9. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

SWR Symphonieorchester, Teodor Currentzis, Antoine Tamestit Elbphilharmonie, Hamburg, 30. September 2023

Barno Ismatullaeva, Sopran, Leon Gurvitch, Klavier Elbphilharmonie Hamburg, 24. September 2023

Les Siècles, François-Xavier Roth, Dirigent, Isabelle Faust und Alexander Melnikov Elbphilharmonie, Hamburg, 26. September 2023

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