François-Xavier Roth und Philippe Manoury ertränken das „Boot Europa“ in der Kölner Philharmonie

Philippe Manoury – Lab.Oratorium (2019) – Lab.Oratorio für Stimmen, Orchester und Live-Elektronik, Kölner Philharmonie, 20. Mai 2019

Foto © Holger Talinski
Philippe Manoury – Lab.Oratorium (2019) – Lab.Oratorio für Stimmen, Orchester und Live-Elektronik, Kölner Philharmonie, 20. Mai 2019

Rinnat Moriah, Sopran
Tora Augestad , Mezzosopran
Patrycia Ziolkowska, Schauspielerin
Sebastian Rudolph, Schauspieler 

Lab.Chor
Michael Ostrzyga, Einstudierung

 SWR Vokalensemble
Léo Warynski, Einstudierung

IRCAM
Thomas Goepfer, Computermusik-Designer
Julien Aléonard, Toningenieur

Gürzenich-Orchester Köln
François-Xavier Roth, Dirigent

Hossein Pishkar, musikalischer Assistent und Kodirigent
Nicolas Stemann, Regie

Von Daniel Janz

In einer Mischung aus Erschütterung und ekelerregender Zivilisationsdekadenz bringen das Gürzenich-Orchester Köln mit François-Xavier Roth, Philippe Manoury und einer ganzen Armada weiterer Mitwirkender das Flüchtlingssterben im Mittelmeer live in die Kölner Philharmonie. Diese wird hierfür programmatisch zum „Boot Europa“ umfunktioniert, in dem jeder einzelne Akteur durch penible Regiearbeit eingebunden ist, sei es auf der Bühne, im Zuschauerraum, dahinter oder im Foyer. Hinsetzen und Anschnallen – die Fahrt beginnt!

Philippe Manoury © Tomoko Hidaki

Alleine dieser politische Aspekt macht bereits klar, dass solch ein Werk zu rezensieren zwangsläufig scheitern muss. Zu sehr versteht sich diese Art Musiktheater als politisches Sprachrohr einer fest definierten Gesellschaftsauffassung, der zuzustimmen oder sie zu kritisieren automatisch polarisiert. Es scheint, als müssten Uraufführungen heutzutage zwangsläufig eine kritisierende, von moralisch erhabener Instanz geleitete Funktion einnehmen.

Dabei markiert der französische Komponist mit diesem Experiment zunächst nur den Abschluss einer dreijährigen Projektkooperation zu dem harmlosen Thema „Raum-Klang-Musik“. Wie er selbst zur Einführung erklärt, hatte er dieses Stück in 2 Jahren erdacht und dann in nur 4 Monaten heruntergeschrieben – gerade noch rechtzeitig, um dem Orchester 5 Tage Probenzeit einzuräumen.

François-Xavier Roth © Wikipdia Céline Gaudier

Den Hang zum Experiment verdeutlicht nicht nur der Name – die Kombination aus „Labor“ und „Oratorium“ ist bewusst gewählt – auch, dass der Komponist maßgebliche Konzeptionsanteile aus der Hand gegeben hat, spricht Bände. Szenengestaltung, Bühnenbild, Licht, Texte – „das überlasse er lieber Profis“, so stellt er fest. In der Folge gibt es für jedes Element einen eigenen Verantwortlichen. Alleine drei Dirigenten sind nötig, um die zahlreichen im Raum verteilten Musikergruppen und Chöre zur Beschallung der Life-Elektronik zu koordinieren.

Teil des Kunstwerks ist bereits das Eintreten der Zuschauer, das in Selbstironie von den Schauspielern Patrycia Ziolkowska (40) und Sebastian Rudolph (51) mit Lobpreisungen auf die bevorstehende „Luxuskreuzfahrt“ begleitet wird. Platz nehmen, Programmheft zücken, der Einmarsch des Orchesters, Eingangsapplaus, sogar das Handy, das noch eilig weggesteckt wird, sind hier von Anfang an Teil des von Nicolas Stemann (50) raffiniert inszenierten Bühnenprogramms. Da macht es auch gar nichts, dass während der Vorstellung unverhältnismäßig viele Zuschauer den ausverkauften Saal verlassen – selbst hier muss man am Ende regietechnisches Kalkül vermuten.

Hossein Pishkar © Susanne Diesner

Anschließend trifft in insgesamt 10 Szenen krachende Kakophonie auf teils banalste Hintergrundmusik. Dazu werden die Schiffspassagiere – also die Zuschauer – als ein Europa präsentiert, das sich in seiner Degeneration noch über den Anblick ertrinkender Menschen auf dem Meer beschwert. Dies wird hauptsächlich durch die Chöre zum starken Dirigat von Hossein Pishkar (30) aus dem Iran inszeniert: Das würde ja den Geschmack der Cocktails verderben, bleibt als groteskes Fazit dieser inszenierten Peinlichkeit stehen.

Und in dieser Schwarz-Weißmalerei liegt – mal vom Fehlen musikalischer Raffinesse abgesehen – besonders zu Beginn ein gewaltiges Manko, präsentiert sich dieses Werk hier doch ausschließlich als Generalanschuldigung an Europa. Nicht in einem einzigen Atemzug wird ein Argument genannt, wieso dieses gut sein könnte. Wieso es verteidigt oder gerettet werden sollte. Grundwerte, wie Frieden, Wohlstand oder Menschenrechte gehen in dem Stück nicht einmal baden (was für eine vertane Chance), sondern sind wie Fremdkörper einfach ausgeklammert.

Die einzigen Stimmen, die dieser Europakarikatur zugestanden werden, sind ein zum Himmel schreiender Dekadenzegozentrismus und original rechtsradikale Verbalentgleisungen, die wirklich alles an Menschenverachtung umfassen. Das, gewürzt mit Stammtischparolen über die Kölner Silvesternacht, den Terrorismus und Wohlstandsneid, droht das Werk in selbstverordneter Gesellschaftskritik zu ertränken, während es als Gegenextrem den plakativen Duktus politisch korrekter Europadekonstruktion demonstriert. Da muss man schon fragen, welche Existenzberechtigung ein Europa, wie es hier präsentiert wird, überhaupt hätte.

Sebastian Rudolph Quelle: https://www.crew-united.com

Dieser Umstand ist es auch, der nach der Aufführung den Schauspieler Sebastian Rudolph im Einzelgespräch mit klassik-begeistert.de zu einer Erklärung bewegt. So möchte er festhalten, dass diese Zentrierung auf das Abscheuliche vor allem der knappen Vorbereitungszeit geschuldet sei, sowie der Tatsache, dass man in einer begrenzten Aufführungsdauer von 90 Minuten nur einzelne Aspekte nennen kann. Der Fokus läge hier – so Rudolph – auf dem Leid, dass Geflüchtete sowie  Seenotretter täglich im Mittelmeer erleben und auf dessen Ursachen.

Der Ausdruck dieses Leids ist dann auch tatsächlich die größte Stärke dieser Raum-Klang-Theater-Komposition. In der fünften Szene kommt zum ersten Mal richtige Beklemmung auf, als Patricia Ziolkowska und Sebastian Rudolph durch authentisches Vortragen des Erfahrungsberichtes eines Seenothelfers verstören, während das Orchester nahezu schweigt. Neben der entsetzlichen Tragödie, die sie bis zur Vollendung ausdrücken können, demonstriert diese Szene auch eindrucksvoll, dass weniger Tamtam manchmal mehr ist.

Hier kann auch der Text überzeugen, dessen Inhalt während der gesamten Aufführung höchst unterschiedliche Niveaus erreicht. So bewegen zahlreiche Gedichte von Ingeborg Bachmann (1926 – 1973) über Flucht und Entwurzelung, die teils gesprochen, teils durch Rinnat Moriah aus Israel und Tora Augestad (39) aus Norwegen von den unterschiedlichsten Positionen her in den Raum gesungen werden. Eine vollauf gelungene Auswahl.

Im krassen Kontrast dazu stehen Textkollagen vom Regisseur Nicolas Stemann aus Hamburg, die Hetzparolen aus dem Internet verbreiten oder Flüchtlingsberichte einem Reisebeschwerdebericht gegenüberstellen. Mal davon abgesehen, dass diese literarisch nicht überzeugen, erzeugen sie besonders in Szene 4 den ungewollten Eindruck der Flüchtlingsverhöhnung. Das wirkt völlig deplatziert, wo doch eigentlich das Leid dieser Menschen beklagt und nicht als Banalität herabgestuft werden soll.

Dazu kommt, dass der Textumgang bei dieser Raumklang-Komposition erheblich leidet. Es scheint, als wären diese Form von Musik und klares Verständnis 2 Konzepte, die nicht miteinander in Einklang zu bringen sind. Jedenfalls werden Chor sowie die Gesangssolisten durch die Klangüberflutung aus dem Orchester oder den Lautsprechern viel zu oft zugeschüttet – und das, obwohl es Manoury – nach seinen eigenen Worten – doch gerade durch den Gesang auf den konkreten Gegenstand ankommt.

Das konkrete Verständnis gelingt aber leider nur dort, wo dem Gesang einmal Raum zur Entfaltung gelassen wird, wo die beiden hervorragenden Schauspieler ihre Zwischenspiele vorführen oder wo die Lichtregie das Lesen des Programmheftes zulässt – was leider so selten der Fall ist, dass  Zuschauer vereinzelt ihre Handys zücken, um ihre Plätze zu beleuchten.

Quelle: https://ostrzyga.com/

Was bleibt ist eine szenische Arbeit, die das übernimmt, was – trotz höchster Konzentration aller Beteiligten – der Musik erst ab Szene 8 und dem Text nur stellenweise gelingt: Nämlich zu ergreifen. Als – von Pyrotechnik begleitet – der aus Amateuren bestehende Lab.Chor die Philharmonie aus allen Eingängen erstürmt, schockiert das ähnlich, wie das grandiose Schlussbild, in dem sie als Sinnbild für die Flüchtlinge in der Mitte der Gesellschaft angelangt sind. Generell kann dieser extra für dieses Werk gegründete Chor, der unter der Leitung von Michael Ostrzyga (43) aus Castrop-Rauxel Hervorragendes erarbeitet hat, teilweise mehr überzeugen, als der Profichor des SWR Vokalensembles unter Léo Warynski.

Das wird zum Schluss auch von den verbliebenen Zuschauern mit furiosem Applaus gewürdigt. Und in der Tat – auch wenn das Konzept erhebliche Schwächen aufweist – so kann man Musiker, Schauspieler, Sänger und Regie nur zu ihrer bis an die Schmerzgrenzen gehenden tadellosen Leistung gratulieren.

Aufgrund der Spezifität des Themas wäre es verwunderlich, wenn sich dieses Werk dauerhaft durchsetzt. Dabei bietet besonders die zweite Hälfte ab Szene 5 viele gelungene Aspekte, die einen aufmerksamen Zuschauer zum Nachdenken anregen können. An Aktualität ist es nicht zu überbieten und einen Besuch schon deshalb wert – schlaflose Folgenächte garantiert. Nicht, weil es große Musik ist. Aber weil es ein Erlebnis ist, das in Anbetracht dieser realen Tragödie mehr Menschen haben sollten.

Laut Sea-Watch (ein Vertreter der Organisation ist an dem Abend ebenfalls anwesend) sind bisher insgesamt 36653 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ertrunken.

Nach der Uraufführung in Köln wird dieses Werk auch noch am 27.5. in der Elbphilharmonie Hamburg und am 3.6. in der Philharmonie in Paris aufgeführt.

Daniel Janz, 21. Mai 2019, für
klassik-begeistert.de

Ein Gedanke zu „Philippe Manoury – Lab.Oratorium (2019) – Lab.Oratorio für Stimmen, Orchester und Live-Elektronik, Kölner Philharmonie, 20. Mai 2019“

  1. Großartige Rezension mit feinfühliger Dialektik

    Hervorragende, detaillierte Spiegelung der verschiedenen Bereiche Musik, Inhalt und Handlungen, Regie, Künstler und Beitragende. Und dann mit deutlichen, sich nicht versteckenden Worten – aber doch mit Samthandschuhen angefasst die politische Sprengstoffkomponente Migration, die weiterhin dabei ist, auch gerade vor den Europawahlen, ein Land oder ein Kontinent in den Grundfesten von Ethik, Menschlichkeit, Selbstschutz, Identität, Integration, Arbeit und Leistung, Wohlstand, letztlich Freiheit und Demokratie etc. – zu zerreißen.

    K. D.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert