Eine aufregende Vielfalt hörenden Empfindens

Rezension des Videostreams: Musica Viva Doppelkonzert,  Gasteig und Herkulessaal München, 6. März 2021

Fotos im Beitrag: © Astrid Ackermann | musica viva, BR

Gasteig und Herkulessaal München,
Livestream am 6. März 2021

Sir Simon Rattle, Dirigent
Magdalena Kožená, Mezzosopran
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

von Frank Heublein

In der zeitgenössischen Musikreihe des Bayerischen Rundfunks werden häufiger Stücke beauftragt. So ist auch dieses erste Stück des Abends ein Auftragswerk und wird an diesem Abend uraufgeführt. Inhaltlich werden Texte verwendet, die um die Suche nach dem Göttlichen kreisen. In sechs unterschiedlichen Sprachen und natürlichen Stimmlauten. Das Werk besteht aus elf Abschnitten.

Adámeks „Where are You?“ beginnt mit mir aus dem Jazz bekannten Scattern, offensichtlich hier nach Partitur. Vibrierend flirrende Klänge. Bedrohlich wie ein Gewitter, das man vor sich sieht. Der Moment bevor es richtig losstürmt. Das Stürmen folgt drängend und unruhig.

Die darauf folgende Sequenz vermittelt mir Feierstimmung. Die jäh durchschnitten wird, so scharf jedenfalls wirkt die Musik auf mich. Die spannungsgeladene Bedrohlichkeit hält an. Getrieben von der Trommel. Die Stimme wirkt entgegen den orchestralen Klängen eher fürsprechend. Der nächste Abschnitt beginnt wabernd, eine Frage-Antwort-Situation mit sich selbst. Ich kann es mir nicht erklären, aber ich nehme mir vor, vorsichtig zu bleiben. Um mich im nächsten Moment von einer Welle mitreißen zu lassen.

Jetzt bäumen sich Stimme und Orchester regelrecht auf und kulminieren in einem langanhaltenden Crescendo, das flirrend verhallt. Es folgen Zweifel, Misstrauen und Entsetzen im anklagenden folgenden „Where are you?“. In diesem Abschnitt kommen Zusatzwerkzeuge zum Einsatz wie ein Megaphon, das das anklagende „Are you in?“ in die Welt hinausschallen lässt. Flirrende Laute von Stimme, Geigen und in den Dosendeckel gesprühter Dosenluft stellen für mich die Verdünnisierung des Wesens dar, das da angerufen wird.

Im folgenden Abschnitt alterniert die Stimme zwischen dem Sing- und deutlich tieferen Sprechregister. Das Orchester flirrt wieder. Der abschließende Abschnitt überschrieben mit „Überall“ ist im wahrsten Wortsinne atemberaubend. Die Sängerin verlässt ihr Pult, geht hauchatmend auf das Orchester zu, das vielkehlig zurückhaucht.

Die Generalfrage des Stücks „Wo bist Du?“ – ein Hauch als Verfestigung des vorher gesungenen Überall. Darin verspüre ich in einem gedehnten und zugleich einen Wimpernschlag kurzen Moment göttliche Inspiration mit dem Herz und Bauch greifen zu können.

Die Person, die dieses Stück vorantreibt, ist die Sängerin Magdalena Kožená. Ondřej Adámek erzählt in der Pause nach dem Stück, dass er das Stück mit ihr zusammen entwickelt hat. Magdalena Kožená benutzt ihr Stimmwerkzeug in extrem vielfältiger Weise. Scatternd. Singend mit großem Tonumfang. Einsatz der Sprechstimme. Geräusche erzeugend wie das Hauchen am Schluss oder zwischenzeitliches Jaulen. Unprätentiös, dem Werk in jedem Moment spürbar inhaltlich verpflichtet mit vollem, sichtbar körperlichem Einsatz. Faszinierend und überzeugend zugleich. Das Orchester reagiert auf diese Leitstimme mit vielfältigen Klangbildern, insbesondere werde ich auf vielfältiges Schlagwerk aufmerksam, eines setzt Dirigent Sir Simon Rattle höchstselbst mehrfach ein. Die Ton- und Lauterzeugung ist umfassend variabel durch den Einsatz verfügbarer Hilfsmittel wie Dämpfer, zusätzlichen Werkzeugen wie Sprühluftdosen und Extremtönen der Instrumente wie etwa der Streicher oder der Harfe.

Das zweite Stück des Abends ist von Olivier Messiaen. Der lateinische Titel lautet übersetzt „Und ich erwarte die Auferstehung der Toten“. Die fünf Sätze sind mit biblischen Versen betitelt. Die Besetzung finde ich spannend mit Holz- und Blechbläsern neben Metallschlaginstrumenten. Ich sehe und höre tiefe Instrumente, die eher selten eingesetzt werden, etwa Bassklarinette, Kontrafagott oder Bassposaune.

Olivier Messiaen ist einer der Komponisten, die mir die Tür zur zeitgenössischen Musik geöffnet haben, in meinem Fall mit seinem „Quatuor pour la fin du temps“. Ein interessantes Detail dieses Komponisten ist seine Begeisterung für Vögel, die er in seinen Kompositionen verarbeitet. Vögeltöne erklingen in vielen seiner Kompositionen, so auch im heutigen Stück, das ich zum ersten Mal höre und heute entdecke.

Düster beginnen im ersten Satz das Kontrafagott und die Tuba in den ganz tiefen Registern. Der Ton öffnet sich allmählich, steigt immer höher, ich verspüre Entsetzen.

Im zweiten Satz interagiert die Oboe mit den anderen Holzblasinstrumenten, der Flöte, dem Englischhorn und der Klarinette. Der Klang erinnert an Vögel. Es ist ein Klang, mit dem ich Aufsteigen assoziiere. Eine von mir bewunderte Leichtigkeit, der Schwerkraft zu trotzen.

Das Schlagwerk unterbricht die Holzbläser rüde wie ein Störfaktor. Mehrere Gongs verschiedener Tonlagen und weiteres Schlagwerk pulsieren heftig. Ist es ein anderes Tier, das die Vögel als Beute betrachtet, der Tod an sich gar? Am Ende des Satzes kehrt er zur leichten hellen Holzbläserkonversation zurück.

Der dritte Satz beginnt mit aufgeschreckten Tönen der Bläser, die sich für mich anhört wie eine unruhige Vogelschar. Helle Einzeltöne der Röhrenglocken durchbrechen diese Aufregung. Blechbläser attackieren und wieder stimmen alle Bläsergruppen aufgeregt ein. Das Kontrafagott verströmt Bedrohlichkeit. In der Wiederholung der Szenerie drohen nun die beiden tief dunklen Tubainstrumente den helleren Bläserinstrumenten. Ein Crescendo des Gongs verhallt in eine Generalpause zum Schluss des Satzes.

Der vierte Satz nimmt den Hall des Gongs leise auf. Marschmäßige Röhren- und Kuhglocken rütteln mich auf und werden durch eine leise, tiefe Gongschlagfolge beruhigt. Die Holzbläser hören sich wie eine weitere Kohorte Vögel an, die im abgestimmten Chor vielstimmig singen. Nun heftiger unterbricht der Gong. Die Vögel setzen erneut ein. Der Gong erschallt im Forte. Nun marschieren die Glocken mit den Bläsern zusammen und stoppen abrupt. Vielstimmige Gongtöne im Piano halten die Schar auf. Die Bläser setzen erneut ein. Wieder spüre ich das Gefühl des Entsetzens in mir.

Im fünften Satz laufe ich durchs bedrohliche Dunkel der tiefen Blechbläser und dunkler heftiger Gongschläge. Sie werden abgelöst von hellen Trompeten und hellen Gongschlägen. Heftigkeit, Eindringlichkeit und Bedrohlichkeit breiten sich in mir aus. Die unterschiedlich hohen, ständig stampfenden Gongschläge strukturieren die Bläsergruppen, die jeweils höhengerecht parallel einsetzen. Die Kuhglocken und Becken forcieren ein Crescendo, das die Trompeten strahlend im Finale übertönen.

Im Finale erkenne ich mein gefühltes bedrohliches Entsetzen als Zurückzucken vor großem Unbegreiflichen. Die strahlenden Trompeten blenden mich, doch sind zugleich Strahl der Hoffnung.

Der zweite Konzertteil beginnt mit einem alten Stück, das ich als Brückenschlag verstehe. Die Königin Mary II. starb unerwartet früh im Alter von 32 Jahren Ende 1694 an den Pocken. Die Musik für das Staatsbegräbnis wurde vom führenden Komponisten Englands der Zeit erstellt: Henry Purcells „Funeral Music for Queen Mary“.

Eine marschierende Trommel beginnt, Blechbläser setzen huldvoll und feierlich ein. Der anschließende Chor trifft mich mitten ins Herz, es rieselt mir wohlig kalt den Rücken hinunter. Die tiefe Trauer spüre ich stark in mir und einen Hauch Hoffnung, die darin mitschwingt. Dirigent Sir Simon Rattle singt lautlos mit, treibt so intensiv seine Chorsänger und -sängerinnen an.

Nach kurzem Canzona-Zwischenspiel der Blechbläser setzt der Chor im folgenden Anthem erneut ein. Ich empfinde es als erhebend und feierlich. Nach einer weiteren Canzona der Blechbläser wirkt das folgende Anthem des Chors auf mich zart, mitfühlend bis in den mich stark anrührenden wunderbaren Schlusston hinein.

Die marschierenden Trommeln des Beginns mit ebenso wie im Beginn einsetzenden Blechbläsern schaukeln sich im Crescendo zum Forte hinauf, bevor verhallender Trommelwirbel die traurige Endgültigkeit des Todes der Königin musikalisch besiegelt.

Georg Friedrich Haas’ „in vain“ beginnt mit Triangelschlägen. Streicher setzen ein. Flirrende Klänge, überlagert durch ein Bläsercresendo. Optisch macht mir die Bassquerflöte Eindruck, diese habe ich lange nicht im Konzerteinsatz gesehen. Der Klang durchströmt mich. Ich empfinde es als schwierig, ihn in mir zu behalten. Ich fühle mich wie ein nach allen Seiten offener Pavillon, durch den die Musik wie Luft einfach so hindurchströmt.

Das Licht erlischt. Ein schriller hoher anhaltender Ton, das muss das Akkordeon sein. Auf- und abschwellende Bläsertöne. Erst Blech, dann Holz. Dann höre – und ich gestehe: sehe ich – Streicher. Denn die Kompositionsidee, im Dunkeln zu spielen, wird konterkariert durch den Einsatz von Infrarotkameras. Die Triangel. Die Musik kommt in Schwällen, die ineinander übergehen und verhallen. Ein Geigenvibrato verhallt. Die Geigen schwirren.

In dieses Schwirren hinein geht das Licht wieder an. Es fühlt sich an wie ein erster Sonnenaufgang in der Antarktis nach langmonatiger Dunkelheit. Das Bild einer kalten unwirtlichen Landschaft verfestigt sich in mir. Ich muss achtsam sein, jeder falsche Schritt könnte den Kältetod bedeuten. Spannung. Alertsein. Alles flirrt, von oben nach unten, als würde sich Wasser ergießen: das Vibraphon, das Piano, die Streicher, die Triangel, die Holzbläser. Langsam erstarrt die Bewegung. Der Klang kehrt zum unwirtlich zitternd fröstelnden in meinem Inneren fühlbar Gefrorenen zurück.

Posaunen, Hörner und Streicher werden abgelöst von Harfe und Xylophon. Ein kurzer Ausruhmoment. Die einsetzenden Hörner und Streicher jagen mich erneut ins Kalte, jetzt durch die Hörner heller aber keineswegs wärmer.

Ein Decrescendo der Streicher leitet die zweite Dunkelphase ein. Die tiefen Streicher lassen mich innerlich erzittern. Klänge treffen mich physisch wie Wellen. Becken. Flirrende Streicher. Bläser im Wechsel. Das Piano trillert. Mit den Anschlägen des Klaviers höre ich die Flöte, die Klarinette. Die nächste Welle der Streicher. Durchzogen von Bläsern, das Blech, sind es die Posaunen?

Streicherflirren. Gong. Becken. Paukenschläge branden auf mich ein. Es durchzuckt mich im Dunkel der geschlossenen Augen. Dramatisches Forte der Blechbläser verhallt. Leise atonale Geigenlinien. Die Flöte?

Das Licht erhebt sich. Die Flöte und die Oboe mit den Streichern. Horn und Posaunen setzen ein. Herabsinkende Tonfolgen, immer schneller, die Flöte gerät erneut ins Flirren. Gongschläge. Glockenspiel. Jetzt dominieren wieder die Geigen, durchbrochen durch tiefe Gongschläge, die wieder ins Flirren der Flöten und des Vibraphons übergehen. Dann gewinnen die Bläser und Streicher mit ihren absinkenden immer schneller werdenden Tonfolgen die Oberhand. Sir Simon Rattle gebietet abrupt Einhalt.

Diese Musik hat kein Ziel, auf das sie zusteuert. Eine Polarnacht, die für sich ist und keinerlei Erklärung bedarf, keinerlei Sinn hat über die eigene unwirtliche Existenz hinaus. Vergeblichkeit (in vain) ist nicht umsonst oder unnütz. Es ist ein Sein. Einzig und allein.

Georg Friedrich Haas’ „in vain“ wird zum Teil im Dunklen gespielt. Das wäre total spannend im Konzertsaal, denn im Dunkeln höre ich anders. Der Verlust des Sehsinns schärft meinen Hörsinn. Daher empfinde ich den Einfall, durch Infrarotkameras Sichtbarkeit zu erzeugen, als problematisch. Zugegeben, ein dunkler Bildschirm bei einer Liveübertragung ist ebenfalls eine schwierige Alternative.

Ich versuche die Augen geschlossen zu halten, das klappt nicht sehr gut. Allzugern möchte ich dieses Stück live im Saal in echter Dunkelheit erleben. Ich werde sehen? Eher noch intensiver, anders, wie ich hoffe, genauer hören.

Frank Heublein, 21. März 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Programm

18 Uhr, Gasteig

Ondřej Adámek

„Where are You?“, für Mezzosopran und Orchester [2020] – Kompositionsauftrag der musica viva des Bayerischen Rundfunks und des London Symphony Orchestra | Uraufführung

I. Slotha – setting a trap for divine

II. Where are You?

III. Peter sent me back

IV. Sharp point

V. Saeta

VI. Confession

VII. Ecstasy

VIII. Levitation

IX. You are not there

X. Gentle whisper

XI. Everywhere

 

Olivier Messiaen

„Et exspecto resurrectionem mortuorum“ – für Bläser und Orchester (1964)

I.

Des profondeurs de l’abîme, je crie vers toi, Seigneur: Seigneur, écoute ma voix!

(Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir. Herr, höre meine Stimme!)

Psalm 130, Vers 1 und 2


II.

Le Christ, ressuscité des morts, ne meurt plus; la mort n’a plus sur lui

d’empire.

(Wissen wir doch, dass Christus, auferweckt von [den] Toten, nicht

mehr stirbt; [der] Tod ist nicht mehr Herr über ihn.)

Paulusbrief an die Römer, Kapitel 6, Vers 9


III.

L’heure vient où les morts entendront la voix du Fils de Dieu …

(Die Stunde kommt, in der die Toten die Stimme des Sohnes

Gottes hören werden)

Evangelium nach Johannes, Kapitel 5 Vers 25


IV.

Ils ressusciteront, glorieux, avec un nom nouveau – dans le concert joyeux

des étoiles et les acclamations des fils du ciel.

(Sie werden auferstehen, glorreich, mit einem neuen Namen – als die

Morgensterne miteinander jauchzten und alle Gottessöhne jubelten)

Paulusbrief an die Korinther, Kapitel 15 Vers 43 – Offenbarung des

Johannes, Kapitel 2 Vers 17, Buch des Hiob, Kapitel 38, Vers 7

V.

Et j’entendis la voix d’une foule immense …

(Und ich hörte etwas wie eine Stimme einer großen Schar …)

Offenbarung des Johannes, Kapitel 19 Vers 6

Sir Simon Rattle, Dirigent

Magdalena Kožená, Mezzosopran

Norbert Ommer, Klangregie

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

21:30 Uhr, Herkulessaal

 


Henry Purcell

»Funeral Music for Queen Mary« (1695)

Marsch

Anthem »Man that is born of a woman«

Canzona

Anthem »In the midst of life we are in death«

Canzona [wiederholt]

Anthem »Thou knowest, Lord«

Marsch [wiederholt]

 

Georg Friedrich Haas

in vain für 24 Instrumente (2000)

Sir Simon Rattle, Dirigent

Howard Arman, Chor-Einstudierung

Duncan Ward, Orchester-Einstudierung

Zoro Babel, Lichtregie

Chor des Bayerischen Rundfunks

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

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