„Oh - in Ihrem Salon vergehen die Stunden, ohne dass die Zeit älter wird. Frau Gräfin!“

Richard Strauss, Capriccio  Prinzregententheater, München, 17. Juli 2022 Premiere

Foto: Diana Damrau als Gräfin Madeleine in der Oper „Capriccio“,  
© Wilfried Hösl

Prinzregententheater, München, 17. Juli 2022  Premiere

An diesem Abend findet die Premiere von Richard Strauss letzter Oper „Capriccio“ im Prinzregententheater in München statt. Achtzig Jahre nach der Uraufführung am 28. Oktober 1942 im Münchner Nationaltheater.

Richard Strauss, Capriccio

Bayerisches Staatsorchester
Lothar Koenigs, Dirigent

von Frank Heublein

„Capriccio“ lohnt sich, diese letzte Premiere der ersten Spielzeit des neuen Führungsduos Dorny und Jurowski an der Bayerischen Staatsoper.

Sängerisch zeigt sich das gesamte Ensemble auf höchstem Niveau. Einmal mehr beweist auch das Bayerische Staatsorchester seine außergewöhnliche Klasse. Nachhören können Sie die Aufführung bis zum 24. Juli 2022 in der App des Bayerischen Rundfunks, die Premiere wird live im Radio übertragen. Richard Strauss gerät zu meinem Lieblingskomponisten. Moment! Die Oper beginnt erst.

Ich komme etwas früher, damit ich das Programmbuch scannen kann und: Schuhe. Mein jetzt nicht mehr geheimes Vergnügen, meinen Mitbesuchern und Mitbesucherinnen auf die Schuhe zu schauen. Heute sind unpassende Strümpfe selten. Das Buch „Der Gentleman“ hat mich vor einigen Jahren informiert, dass die Socke farblich dem Hosenbein gleichen soll und nicht dem Schuh. Nun, heute hat eine erhebliche Anzahl der männlichen Besucher keine (sichtbaren) Socken an. Turnschuhe, sportliche Slipper, schicke Slipper, Schuhe aus grobem Leder und bestimmt Wasser abweisend. Gefühlt die Hälfte der Männer hat schickere Halbschuhe an. Ich sehe ein vereinzeltes Paar schwarze Lackschuhe.

Die Damen haben in aller Regel schickeres Schuhwerk, bei Männern gibt es arge Verfehlungen in Form ausgetretener Latschen, dass mir zuweilen der Atem stockt. Im Moment des Gedankens, dass die Opern besuchenden Frauen den durchschnittlich besseren Schuhgeschmack haben als die Männer, sticht mir ein irritierend unpassend zum Gesamtoutfit bunt schillernder Turnschuh am Frauenfuß ins Auge. Rosane Birkenstocks mit Zehentrenner. Das Vergnügen, elegant getragene mondäne High-Heels zu beobachten, wo könnte ich das besser ausleben als in der Oper, noch dazu einer Opernfestspielpremiere? Ich labe mich an zahlreichen tollen Varianten gut und gekonnt getragener hoher dünner Pfennigabsätze.

Richard Strauss schrieb an dieser Oper etwa acht Jahre. Erstmals aufgeführt wurde sie im Kriegsjahr 1942. Inhaltlich sind Richard Strauss und seine Librettisten sehr introspektiv. „Capriccio“ handelt von der Kunst und der Oper. Was wiegt stärker in der Kunst? Die Musik? Die Worte? Die Oper ist ein Spiel im Spiel im Spiel. Denn im Verlauf der Oper „Capriccio“ wird die Handlung der Oper als Oper beauftragt. Ich tauche in den Strudel ein.

Das Orchester wird als erstes ausgestellt. Gerade indem man es nicht sieht. Am Anfang höre ich ein Streichsextett. Der Vorhang ist geschlossen. Ich lasse den Klang in mich hineinströmen. Ich bin begeistert wie jedes Mal aufs Neue überrascht, wie Strauss orchestral Sogwirkung in mir produziert. Ich empfinde Distanz zwischen Stimmen und Orchester. Sie treiben sich gegenseitig an, ein aktiver Austausch, kein passives Begleiten, keine Untermalung der Stimme. Lothar Koenigs leitet elegant und spannungsgeladen das großartige Bayerische Staatsorchester, das durch ein unglaublich dichtes geradezu elektrisierendes Klangbild besticht. Ich höre bestimmt nicht alle Zitate und Anklänge, die Strauss eingearbeitet hat. Die orchestermusikalische Anspielung auf den „Rosenkavalier“ höre ich, wenn Schauspielerin Clairon singt „Oh – in Ihrem Salon vergehen die Stunden, ohne dass die Zeit älter wird. Frau Gräfin!“

Gleich nachdem sich der Vorhang geöffnet hat, sehe ich die beiden Kontrahenten, den Komponisten Flamand und den Dichter Olivier im handlungstreibenden Schlagabtausch. Sie offenbaren gegenseitig, beide sind verliebt in die Gräfin. Die Liebesrivalität springt über in ihr künstlerisches Schaffen. Sie wollen sich gegenseitig übertrumpfen, um bei der Gräfin an erster Stelle zu stehen: steht die Musik über dem Wort oder anders herum? Beide kommen in jeweils einer Szene zu einem Tête-à-Tête mit der angehimmelten Gräfin.

Der Dichter Olivier wird gesungen von Bariton Vito Priante. Was höre ich aus seiner festen zugleich emotional vielsagenden Stimme? Er ist liebesleidend, aufmerksam wie ein verwundetes Tier. Er bedrängt die Gräfin, zu entscheiden, ob Wort oder Musik die höhere Kunst ist. Er meint, die Gräfin gewonnen zu haben, sollte sie sich fürs Wort entscheiden. Wie alle Künstler im Stück ist er sehr eingebildet und überzeugt, die eigene Kunst wäre die höchste. Die andere Kunst würde verunreinigen: „Mein schönes Gedicht, mit Musik übergossen!“ Ich kichere erheitert still in mich hinein.

Der Komponist Flamand wird gesungen von Tenor Pavol Breslik. Er ist stimmlich präsent, dynamisch, eindringlich. Ebenso wie Olivier offenbart er der Gräfin seine Liebe, fordert ebenso wie Olivier die Entscheidung in Sachen Wort oder Musik von ihr. Bedrängt sie. Seine Liebesoffenbarung ist überraschend explosiv. Er ringt der Gräfin eine küssende Umarmung ab.

Michael Nagys Graf wünschte ich eine größere Rolle, so sehr gefällt mir seine volle, klare Baritonstimme.

Im Spiel singt Theaterintendant und -regisseur La Roche „Wo sind die Werke, die zum Herzen des Volkes sprechen, die seine Seele widerspiegeln? Wo sind sie? – Ich kann sie nicht finden, so sehr ich auch suche. Nur blasse Ästheten blicken mich an: sie verspotten das Alte und schaffen nichts Neues!“. Diese Anklage ist aktuell und versetzt mir einen brennenden Stoß. Bass Kristinn Sigmundsson singt La Roche anfangs in sich ruhend, souverän. In einer der zentralen Stellen der Oper, der neunten Szene, fokussiert er mit seiner vollumfassenden wie stimmlichen Präsenz meine Aufmerksamkeit. Fulminant! Wie seine kraftvolle Stimme mit dem Inhalt verschmilzt: „Ich will meine Bühne mit Menschen bevölkern! Mit Menschen, die uns gleichen, die unsere Sprache sprechen! Ihre Leiden sollen uns rühren und ihre Freuden uns tief bewegen! Auf! Erhebt euch und schafft die Werke, die ich suche! Kraftvoll führ auf meiner Bühne ich sie zum stolzen Erfolg.“* Die Figur ist geradezu schockierend eingebildet: „Heute im Zenith meiner ruhmreichen Laufbahn darf ich es wagen, von mir zu sprechen, – von mir, dem Entdecker grosser Talente – dem weisen Erzieher, dem Inspirator! Ohne meinesgleichen, wo wäre das Theater?“

Dies führt zu einer komödiantischen Wahrnehmung bei mir. Alle künstlerisch tätigen Protagonisten, Regisseur, Dichter, Komponist glauben, ihr Können ist das Wichtigste, um das größte Kunstwerk zu schaffen. Das führt zwingend zur Ironie. Denn an diesen Stellen ist das Orchester präsent und prononciert den inhaltlichen Vortrag. Zugleich antwortet es. Hört her, ich bin es, das Orchester, das wichtigster und zentraler Baustein ist. Einige Male lache ich vergnügt und wie ich hoffe ausreichend diskret, um meine mich umgebenden Zuhörer und Zuhörinnen nicht zu stören. Ich nehme keine Person in meiner Umgebung wahr, die ihrer Erheiterung offensichtlichen Ausdruck verleiht. Wie schade. Für mich ist das ganz im Sinne La Roches Freude, die mich tief bewegt.

© Wilfried Hösl

Im Terzett in der sechsten Szene von der Gräfin und den Künstlern Flamand und Olivier erkenne ich Strauss. Dialoge, denen ich folgen will, führen ins übereinander Gesungene, das ich nicht mehr entwirren kann. Ich bin eingefangen im Schmelztiegel der musikalischen Fusion von Stimmen und Orchester. In der achten Szene wird mir ein kakophones Oktett präsentiert, welches für mich ironische Spiegelung des Terzetts in der sechsten Szene und generell einer der Kompositionstechniken Strauss’ selbst ist. Acht Stimmen, die übereinander gelagert vor sich hin gegen den oder die andere singen. Ich verstehe gar nichts. Noch nicht einmal, wenn ich versuche, die Übertitel zu verfolgen. Diese scheitern ebenfalls, das Durch- und Übereinander zu sortieren.

Sopranistin Diana Damrau singt die Gräfin. Schwebend ist ihr Ton, umschmeichelt mich wohlig. Sie durchbricht in gewisser Weise das Kompositionsprinzip von Strauss. Denn Ihre Stimme oktroyiert das Orchester zur untergeordneten Begleitung. Ihre große Arie „Morgen mittag um elf! Es ist ein Verhängnis“ hat sie in der letzten Szene. Bestechend ihr Gesang zu ihrem Spiegelbild, inszenatorisch umgesetzt durch die drei Tänzerinnen, die die Gräfin in drei Alter Egos in unterschiedlichem Alter darstellen.

Verführerisch, tiefgründig und komplex, so singt sie die Gräfin und in diesem Moment glaube ich: für mich! Ich hänge an ihren Lippen. Ich folge ihr sirenengleich in die verlockenden Abgründe. Reflektierend, sehend, den unausweichlichen Schmerz ahnend, ihn zu einem gewissen Teil auch genießend: „Ihre Liebe schlägt mir entgegen, zart gewoben aus Versen und Klängen. Soll ich dieses Gewebe zerreißen? Bin ich nicht selbst in ihm schon verschlungen? Entscheiden für einen?“.

Sie findet keinen Ausweg. Das gilt für sich als in der Oper handelnde Person, den gesuchten Schluss der in der Handlung beauftragten Oper wie auch für die Oper „Capriccio“ selbst: „Du Spiegelbild der verliebten Madeleine, kannst du mir raten, kannst du mir helfen den Schluss zu finden für ihre Oper? Gibt es einen, der nicht trivial ist?“. Im Fall von „Capriccio“ ist es das offene Ende, das Vertrauen in sich selbst, die Zuversicht, dass eine Lösung sich finden wird. Zuversicht zu haben war 1942 genauso wenig trivial wie heute.

Zeigt Richard Strauss Selbstironie, wenn die Überlegungen zum Schluss der in der Handlung beauftragten Oper sich ziehen und damit auch das Ende von „Capriccio“ ausgedehnt wird? Doch ich will gar nicht, dass dieser musikalische Strom in mir abreißt, nehme dankbar jede neue Facette auf.

Dieser Abend macht klar, dass es nicht darum geht, ob Wort oder Musik oder gar die Regie die bedeutendste Kunst ist. Große Kunst entsteht im Zusammenwirken, der Teamleistung, die in mir das Ganze beeindruckender erscheinen lässt als die bloße Summe der Einzelteile. Dieses wunderbar große Ganze an diesem Abend erlebt zu haben, das verspüre ich beim Schlussapplaus.

Wem wird am Ende einhellig von allen auf der Bühne stehenden gedankt: dem Souffleur oder der Souffleuse! Das Spiel im Spiel im Spiel im Spiel! Denn auch der Souffleur geistert im Stück umher, stumm bis fast zum Schluss. Dem Haushofmeister offenbart er sich als Initiator: „Erst wenn ich in meinem Kasten sitze, beginnt das Weltenrad der Bühne sich zu drehen! […] Die tiefen Gedanken unserer Dichter, ich flüstere sie leise vor mich hin – und alles beginnt zu leben. Unheimlich-schattenhaft spiegelt sich vor mir die Wirklichkeit. – Mein eigenes Flüstern schläfert mich ein. Wenn ich schlafe, werde ich zum Ereignis! Die Schauspieler sprechen nicht weiter – das Publikum erwacht!“

Einhelliger großer Applaus für alle Beteiligten, der zu Recht aufbrandet für Diana Damrau für Ihre stimmlich wie schauspielerisch außergewöhnlich eindrucksvolle Interpretation der Gräfin.

* Eine Bemerkung, die über „Capriccio“ hinausreicht:
Aus meiner Sicht ist die Klage des Direktors gerade heute berechtigt. Wieviel Werke lebendiger Komponisten „voller Menschen, die uns tief bewegen“ stehen auf den weltweiten Spielplänen der Opernhäuser? Gar in ihrem Repertoire der Wiederaufführungen? In München wagen Serge Dorny und Vladimir Jurowski in dieser Spielzeit in dieser Hinsicht Einiges, die Oper ins Jetzt zu holen. Es gelingt ihnen außergewöhnlich viel, allen voran das grandiose „Bluthaus“ von Georg Friedrich Haas. Diese Oper ist voller Menschen, die wirklich ausnahmslos alle Zuhörer und Zuhörinnen tief bewegt haben, deren Äußerungen ich über das Stück ich wahrgenommen habe. Ins wiederaufgeführte Repertoire damit!

Frank Heublein, 18. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung
Inszenierung   David Marton
Szenische Einstudierung   Andreas Weirich
Bühne   Christian Friedländer
Kostüme   Pola Kardum
Licht   Henning Streck
Dramaturgie   Barbara Engelhardt, Katja Leclerc

Die Gräfin   Diana Damrau
Der Graf   Michael Nagy
Flamand, Komponist   Pavol Breslik
Olivier, Dichter   Vito Priante
La Roche, Theaterintendant und -regisseur   Kristinn Sigmundsson
Die Schauspielerin Clairon   Tanja Ariane Baumgartner
Monsieur Taupe, Souffleur   Toby Spence (Taupe französisch = Maulwurf)
Eine italienische Sängerin   Deanna Breiwick
Ein italienischer Tenor   Galeano Salas
Der Haushofmeister   Christian Oldenburg

Diener   Christian Wilms, Dimitrios Karolidis, Paul Kmetsch, Leonhard Geiger, Hans Porten, Robin Neck, Leopold Bier, Gabriel Klitzing

Drei Tänzerinnen   Anna Henseler, Zuzana Zahradníková, Ute Vermehr

Bluthaus, Friedrich Georg Haas, Claudio Monteverdi Cuvilliés-Theater, München, 21. Mai 2022

Richard Strauss, Capriccio Semperoper Dresden, Aufzeichnung der Premiere ohne Publikum vom 8. Mai 2021

Richard Strauss, Capriccio,

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