Miina-Liisa Värelä (Baraks Frau), Evelyn Herlitzius (Die Amme), Camilla Nylund (Die Kaiserin), Tilmann Rönnebeck (Der Einarmige), Oleksandr Pushniak (Barak), Tansel Akzeybek (Der Bucklige), Rafael Fingerlos (Der Einäugige), Kinderchor der Semperoper Dresden © Semperoper Dresden/Ludwig Olah
Eine letzte Premiere, ein letzter ganz großer Wurf: Christian Thielemann verabschiedet sich mit einer Neuproduktion der „Frau ohne Schatten“ aus Dresden – und wie! Das ‚opus magnum‘ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal wird in Dresden zum gefeierten Erfolg, nicht zuletzt auch dank der hochgradig gelungenen und inhaltlich überzeugt-überzeugenden Inszenierung von David Bösch und eines vorzüglichen Solistenensembles. Dieser Abend wird lange in Erinnerung bleiben – sowohl als Meilenstein der Dresdner Strauss-Tradition wie auch als Schlussstein einer Ära.
von Willi Patzelt
Richard Strauss
Die Frau ohne Schatten
Christian Thielemann, Dirigent
Sächsische Staatskapelle Dresden
David Bösch, Regie
Patrick Bannwart, Bühnenbild
Semperoper Dresden, 23. März 2024
Die Frau ohne Schatten und die Sächsische Landeshauptstadt sind durch eine nicht ganz gut begonnene Geschichte miteinander verbunden. Nur zwölf Tage nach der Uraufführung dieser „modernen Märchenoper“ an der Wiener Hofoper, nämlich im Oktober 1919, kam „FroSch“ unter der Leitung von Fritz Reiner in Dresden zur Aufführung – jedoch mit mittelmäßigem Erfolg und künstlerisch zum Missfallen des Komponisten. Strauss bemängelte vor allem, das Stück sei „szenisch so unvollkommen vorbereitet gewesen“, dass er die Premiere sogar habe verschieben lassen müssen.
Dass der FroSch in der Regie von David Bösch in der nunmehr fünften Neuproduktion an der Dresdner Oper szenisch sehr vollkommen gelingt, ist also keine Selbstverständlichkeit. Dafür, dass das so ist, sind freilich die Herren Stauss und Hofmannsthal höchstselbst verantwortlich zu machen. Das Libretto, die ganze Anlage des Werks sind sprachlich, inhaltlich und symbolisch so dermaßen kompliziert konstruiert, dass beide Väter jenes „Schmerzenskindes“ (so Strauss über den FroSch in einem Brief an Hofmannsthal) schon selbst merkten, dass sie es mit Symbolik und Metaphorik da wohl etwas weit getrieben hatten.
Dass Bösch in seiner Inszenierung dahingehend also nicht zu dick aufträgt, tut dem Stück schon einmal gut. Überzeugend erzählt er jene märchenhafte Geschichte von Mutter-, Frau- und letztlich Menschwerdung sowie der mit alledem einhergehenden Erkenntnis, dass echtes Glück nicht auf Kosten anderer Menschen erworben werden kann. Man sieht eine durchaus moderne Studie über die Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen. Das gelingt Bösch – heutzutage selten genug – auch ohne den Verlust von orientierendem Naturalismus. Es stellt das Färberhaus mit seinem von „ehrlichem Sichtbeton“ umgebenen Innenraum die Gefühlswelt der Färbersleute ebenso treffend dar, wie das weiße, raumhohe Seidentücher für die seicht-abgehobene, ätherische Welt des Kaisers leisten. Doch im Färberhaus wird eben auch gefärbt, und die Geister sehen sehr wohl aus wie Geister. So vermeintlich banale Einstiegshilfen in die durchaus komplizierten Implikationen des Werkes ermöglichen überhaupt erst inhaltlichen Erkenntnisgewinn. In Verbindung mit spektakulären Videoinstallationen und kluger Personenregie gelingt ein auf der Deutungsebene sehr wohl aussagekräftiger, doch auch nicht überfordernder Abend.
Das lohnt anzumerken, denn tatsächlich tendiert die Frau ohne Schatten andauernd dazu, den Zuhörer zu überfordern, und zwar nicht nur durch Handlung und Symbolik, sondern auch wegen der bisweilen zu Überreizungen neigenden Partitur. In dieser ist ja so ziemlich alles enthalten, was der musikalische Empfindungs-Baukasten nach Strauss’schem Musikverständnis zu Beginn des 20. Jahrhunderts so vorrätig hält: maximal dissonante pianissimo-Spannung, die an Horrorfilme erinnert und grell-eruptiv ausbricht, immer wieder zu dramatischen Höhepunkten findet und von dunkel-düsteren Momenten kontrastiert wird.
Dass die Partitur an diesem Abend nicht überfordert und überreizt, ist das Verdienst von Christian Thielemann. Auch für ihn ist es bereits die fünfte Neuproduktion der Frau ohne Schatten. Die musikalische Architektur ist – wie so oft – perfekt angelegt. Es gelingt der ganz große Spannungsbogen, und zwar ohne dass man je das Gefühl hätte, es müssten noch „Klangkapazitäten“ aufgespart werden. Die Partitur selbst erfährt an dem Abend, und eben auch aus sich selbst heraus, ihre volle Wahrheit und universelle Richtigkeit. Sie erklingt so schlüssig, sodass die Interpretation mit Worten wie „toll“, „wunderbar“ oder „großartig“ nur unzulänglich beschrieben wäre. Nein, treffender wäre es, der musikalischen Interpretation einfach entgegenzusagen: „Genau so ist es!“
Zumal die Sängerbesetzung Maßstäbe setzt. Schließlich braucht es, neben den vielen kleineren und mittleren Rollen, ein ausgewogenes Ensemble fünfer absoluter Spitzenkräfte. Dies gelingt vorzüglich. Besonders bemerkenswert war – wie so oft – Camilla Nylund. Gab sie vor einigen Wochen noch eine vorzügliche Isolde und vor einem guten halben Jahr eine fulminante Salome in München, zeigte sie nun als Kaiserin, wie universell ihr anscheinend zeitloser Sopran ist. Der Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung der Kaiserin hin zum Menschen durch das Empfinden von Mitleid und Liebe, wird ihr zweiter Akt zum musikalischen Kulminationspunkt des Abends. Tatsächlich: Vor solchem Gesang „liegen Cherubim auf ihrem Angesicht!“
Evelyn Herlitzius war als Amme voller gesanglicher Durchschlagskraft. Stimmlich wie schauspielerisch gab sie ein hochgradig intensives und eindringliches Porträt einer höheren Geistern verpflichteten Amme, die – und man glaubt es Herlitzius in jedem Takt – die Menschen unsagbar hasst. Eine spektakuläre Darstellung.
Die Finnin Miina-Liisa Värelä und der Ukrainer Oleksandr Pushniak sind als Färberpaar gleichsam Neuentdeckungen des Abends. Beide debütierten an der Semperoper und vermochten vor allem durch Ausdrucksvielfalt und Bühnenpräsenz zu überzeugen. Manch hoher Ton Väreläs klang zwar etwas spitz und wenig routiniert. Doch auf die junge Finnin wird man sich in Dresden hoffentlich noch öfter freuen dürfen – und ebenso auf den ausdrucksstark-dramatischen Bariton Oleksandr Pushniaks.
Der ursprünglich vom Belcanto kommende US-amerikanische Tenor Eric Cutler rundet das vorzügliche Spitzenensemble überzeugend ab. Eine noch lyrischere Herangehensweise hätte zwar der Figur des Kaisers zuweilen nicht geschadet. Aber nach seinem doch eher blassen Lohengrin in Salzburg zeigte Cutler sehr überzeugend, dass mit ihm im Heldenfach immer mehr zu rechnen ist.
So wird, alles in allem, die 2024er Neuproduktion des FroSch womöglich nicht nur als ein weiterer Höhepunkt, sondern auch als phänomenaler Schlussstein einer besonders erfolgreichen Ära des nicht selten – und leider nicht nur zu Unrecht – als „Touristenoper“ etikettierten Hauses am Dresdner Theaterplatz eingehen. Dass künftig die ganz großen, weltweit bedeutsamen Wagner- und Straussabende mit internationalem Publikum wohl erst einmal ausbleiben werden, ist für Dresden jedenfalls traurig.
Denn – so ehrlich muss man sein – jener ganz große Ruf, den Semperoper und Sächsische Staatskapelle in den letzten Jahren immer mehr genossen, war zu einem großen Teil Christian Thielemann zu verdanken. Die neue „Frau ohne Schatten“ zeigte das einmal mehr. Für gerade das Dresdner Publikum gibt es freilich – neben sicher auch sehr schönen Sachen, die da mit den neuen Führungspersönlichkeiten kommen werden – nachhaltigen Trost: Thielemann neuer Arbeitsplatz als GMD ist die Berliner Lindenoper, und die kann man von Sachsens Hauptstadt aus bei nur 164 km Luftlinie durchaus gut und zügig erreichen …
Willi Patzelt, 25. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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