Foto: Michael Volle als Hans Sachs, Michael Laurenz als David © Michael Pöhn, Wiener Staatsoper
…und der David locker den Stolzing covern könnte! Die erste Wiener Meistersinger-Premiere seit 47 Jahren ist ein musikhistorisches Ereignis wie ein Fest der hohen Tonkunst. Laute Bravo-Stürme vor Beginn des ersten Aufzugs – ein Ausdruck künstlerischer Wertschätzung oder musikpolitischer Solidarisierung mit Philippe Jordan?
Die Meistersinger von Nürnberg
Musik und Libretto von Richard Wagner
Wiener Staatsoper, 4. Dezember 2022, Premiere
von Johannes Karl Fischer
Stürmische Zeiten an der Wiener Staatsoper: Erst sorgt der Wiener Generalmusikdirektor mit seinen Kommentaren zum Regietheater für Furore. Dann – vor ein paar Tagen – verkündet sein Vorgesetzter eine Ära ohne Chefdirigenten im Haus am Ring. Die Philharmoniker haben’s vorgemacht. Und sind seitdem zum unangefochten besten Orchester der Welt aufgestiegen…
Das war nicht das erste Opernskandal des Jahres: Die Regie-Buhs für den neuen Tristan im Frühjahr hatten schon vor der Premiere begonnen. Bogdan Roščić stand – laut Medienberichten – kurz davor, das Probenpublikum des Hauses zu verweisen. Heute steht auf dem obligatorisch eingerahmten Besetzungsplakat gegenüber der Abendkassa: „Premiere, Die Meistersinger von Nürnberg, Inszenierung: Keith Warner.“ Wird das gut gehen?
Und wie: Bravo-Stürme für Jordan und die Wiener Philharmoniker (Korrektur: „Orchester der Wiener Staatsoper“) bringen die Jubelstimmung schon vor dem ersten Akkord zum Kochen. Der Chef am Pult stürzt sich ins Vorspiel, zaubert aus seiner Truppe eine fünfzehnminütige Meistersinger-Symphonie heraus. Mit feierlichstem Klang schallt das Orchester den Saal samt seiner erstklassigen Akustik voll. Nur der nahtlos komponierte Übergang zum Eröffnungschoral kann den Ausbruch eines stürmischen Applauses aufschieben.
Ein kontroverses Regiekonzept wagt Warners Team nicht als Nachfolge der altgefeierten Vorgängerinszenierung auf die Bühne zu bringen. Viele bunte Bilder, der David in Oschkosch-Hose, Beckmesser im roten Rocker-Anzug mit E-Gitarre. Die Musik steht stets im Vordergrund: Die Meistersinger tragen Tenor-, die Lehrlinge Violinschlüssel auf ihren Kostümen. Aber alles bleibt in Rahmen. Wer eine Neuauflage der sinnlosen Stuhlschmeißereien à la Wieler/Morabito/Wiebrock befürchtet, kann aufatmen. Alles gut. Kaum Buh-Rufe für den britischen Wagner-Spezialisten.
Kommen wir zum eigentlichen Highlight des Abends: Die Musik. Bei der letzten Meistersinger-Premiere an diesem Haus sang Karl Ridderbusch noch den Sachs, am 21. Oktober 1975 (!) war das. Knapp ein halbes Jahrhundert später tritt mit Michael Volle ein mehr als würdiger Nachfolger in dessen Fußstapfen. Kraftvoll von Anfang bis Ende, seine Monologe zum Status quo der Kunst wirken wie eine lebendige Diskussion von höchster Aktualität. Die einen wollen Diktatur der Tabulatur, die anderen rufen laut: „Halt, nicht jeder eure Meinung teilt!“
Nicht nur ein, sondern gleich drei Sachse standen mit Jordan auf der Bühne: Der Beckmesser wie der Veit Pogner des Abends haben den Sachs in Repertoire. Georg Zeppenfeld sang Evas Vater gewohnt routiniert, auch in den Tiefen seines Basses höchst melodisch. Mit Wolfgang Koch hat man in Wien eine neue Idealbesetzung von Sachs’ Gegenspieler gefunden. Seine röhrende, tiefe Stimme spielt eine lächerliche, aufdringliche Witzfigur. Wie volltrunken purzelt er von der Sängerbühne im dritten Aufzug hinunter. Ein böser Beigeschmack der Regie: Seine Version des Stolzing-Preislieds wird wortwörtlich visualisiert, Blut und Galgen auf die Bühne projiziert.
Mit großer Begeisterung erwartete das Publikum auch David Butt Philips Stolzing-Debüt. Eine leicht harte, fast schon heldenhafte Stimme hat er. Sein Schwert liegt ihm zwar nicht szenisch, aber musikalisch in der Hand. Herausragend auch seine Textverständlichkeit, eine Wunderleistung, gerade für einen nicht-Muttersprachler. Der zweite Solo-Tenor des Abends – David (Michael Laurenz) – brillierte in der Rolle des Lehrlings mit viel Koloratur auf Meisterspur. Dem hätte man locker den Stolzing zugetraut!
Ihre Existenz verlangt die Handlung allein einer Person: Eva. Ohne sie gäbe es keinen Wettgesang, sie ist der eigentliche Mittelpunkt des Geschehens. Hanna-Elisabeth Müllers dramatischer Sopran erobert musikalisch die Herzen des Publikums wie ihres Stolzings. Viel zu wenig hat sie zu singen – der einzige Schwachpunkt von Wagners Schaffen. Doch mit jeder noch so kurzen Zeile packt sie Publikum fest in der Melodei. Christina Bock sang dazu eine wunderbare, etwas freche Magdalene. Die Streiche mit ihrem David und dem Korb sind noch spaßig, den Beckmesser führt sie am Fenster regelrecht vor. Eine perfekte Komplettierung der weiblichen Hauptrolle!
Ein fulminant auftretender Chor sowie die unzähligen, brillant besetzen Nebenrollen bringen eine Parade-Premierenabend zu Ende. Diese Meistersinger werden in die Geschichtsbücher der Wiener Staatsoper eingehen! Nicht nur als Nachfolger der legendären Otto Schenk-Inszenierung, sondern als musikalischer Höhepunkt der jüngeren Opernaufführungsgeschichte.
Eine Handvoll an jungen Stehparterre-BesucherInnen harrt mit dem Parkettpublikum bis zum bitteren Ende aus, über 20 Minuten donnert der Premieren-Applaus! Die fiebern wahrscheinlich schon der nächsten Meistersinger-Premiere entgegen. Wann auch immer die sein wird…
Johannes Karl Fischer, 5. Dezember 2022 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg Deutsche Oper Berlin, 12. Juni 2022 PREMIERE
Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg Oper Leipzig, 23. Oktober 2021
Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg Bayreuther Festspiele, 26. Juli 2021