Trotz aller Ambivalenz zwischen musikalischer Darbietung und szenischer Umsetzung, die klare Empfehlung: unbedingt hingehen!
Fotos: © Thomas Jauk, Stage Picture
Theater Dortmund, 30. November 2019
Richard Wagner, Lohengrin (Premiere)
von Ingo Luther
In Sachen Richard Wagner hat man in den nächsten Jahren am Theater Dortmund große Dinge vor: Peter Konwitschny wird in den Jahren 2021 bis 2024 einen neuen Ring des Nibelungen schmieden. Dabei wird die Entstehung dieser Interpretationen im Rahmen des „Dortmunder Wagner Kosmos“ von zahlreichen Podiumsgesprächen und Veranstaltungen zum Thema flankiert werden. Endlich rückt der Jahrtausend-Komponist auch im Revier wieder dorthin, wo er hingehört: In den zentralen Fokus des kulturellen Lebens in der Ruhrgebietsmetropole und weit darüber hinaus!
Für den ersten Meilenstein auf diesem Weg durch das mystische Universum des Wagnerschen Kosmos konnte Ingo Kerkhof als Regisseur für den ersten Dortmunder „Lohengrin“ seit exakt zehn Jahren – zuletzt führte Christine Mielitz im Dezember 2009 Regie – gewonnen werden. Er entscheidet sich dafür, Elsa in den Mittelpunkt seiner Lesart zu rücken und die Geschichte als ihren Traum auf die Bühne zu bringen. Elsas Bett und ihr Mädchen-Zimmer sind immer wieder der Ankerpunkt im ansonsten eher minimalistischen Bühnenbild von Dirk Becker. Auch während der Handlung versucht Elsa sich immer wieder in ihre Traumwelt zurückzuziehen, in dem sie sich einfach auf den Boden legt und in eine Schlafhaltung zusammenzieht. Nur ein paar lieblos gekappte Schilfhalme am Bühnenrand lassen zumindest Gedanken an das Ufer der Schelde bei Antwerpen aufkommen, wo Wagner seinen ersten Lohengrin-Aufzug regional verortet hat.
Elsas Traumwelt als Deutungsansatz für die Geschichte vom Schwanenritter ist nicht neu, wird aber von Kerkhof um ein innerfamiliäres Geflecht erweitert, welches im Fortgang doch zunehmend skurrile Züge annimmt. Kerkhof projiziert Wagners innige Beziehung zu seiner zehn Jahre älteren Schwester Rosalie auf Elsa und deren Liebe zu ihrem Bruder Gottfried. Die gesamte Handlung als – wie im Programmheft beschrieben – „tönendes, wenn auch hoffnungsloses Liebesgeständnis von Wagner an Rosalie“ zu erzählen, führt dabei in ein nur schwerlich zu entwirrendes Chaos der Charaktere. Auch wenn Texteinblendungen immer wieder die Verweise ins Märchenreich aufzuzeigen versuchen („Es war einmal…“), wird die eigentliche Intention der Regie zu keiner Zeit wirklich nachvollziehbar und schlüssig umgesetzt.
Grenzwertiger Höhepunkt von Kerkhofs Sicht auf die Story: Über den Gotteskampf zwischen Lohengrin und Friedrich wird eine Videoprojektion (Video: Philipp Ludwig Stangl) gelegt, in der die junge Elsa und ihr Bruder Gottfried an einem Tisch sitzen und Suppe essen! Aus der Suppenschüssel fischt der junge Gottfried einen Federball, den er sich albern mit seiner Schwester zuwirft. Eben diesen Federball wird Lohengrin später seiner Braut Elsa feierlich überreichen… Ebenso unergründlich bleibt, warum Friedrich nach der Szene im Brautgemach nicht von Lohengrin niedergestreckt wird (er ist noch nicht einmal auf der Bühne!), anschließend aber seine Leiche hereingeführt wird. In der Schlussszene ist er dann wieder überaus lebendig auf der Bühne zu sehen. Braucht es noch mehr Beispiele aus dem zum Teil vollkommen abstrusen Bühnengeschehen?
Ist Lohengrin nur die Inkarnation des geliebten Bruders Gottfried? Ist Ortrud nur der charakterliche Gegenpol in Elsas eigenem Ich? Stehen die übrigen Protagonisten nur für deren abgespaltene Wesenszüge? Viele Fragen, die von der Regie aufgeworfen werden, mit deren Suche nach der Antwort der Zuschauer aber ratlos in seinem Theatersessel zurückgelassen wird. Folgt man den Gedanken von Ingo Kerkhof bleibt am Ende vom Lohengrin Richard Wagners lediglich die Titel-Überschrift zurück. Weniger Wagner im Lohengrin war sicher selten – eine bittere Enttäuschung für Puristen und Erst-Besucher, die an diesem Abend vielleicht einen sanften Einstieg in die Welt der Wagner-Werke erhofft hatten.
Keine guten Voraussetzungen für einen gelungenen Premieren-Abend in Dortmund. Erstaunlicherweise schafft aber gerade dieser arg konstruierte Regieansatz durch seine Statik und seine teilweise nahezu konzertante Umsetzung einen glasklaren Blick auf die musikalische Genialität der Wagnerschen Klangwelten.
Dafür sorgt insbesondere der von Fabio Mancini auf großes Niveau gehobene Opernchor des Theaters Dortmund. Dieser agiert im 1. und im 3. Akt von beiden Seiten des oberen Logenbereiches und wird somit darstellerisch von jeglicher Bühnenpräsenz abgekoppelt. Das führt zwar zu einer völligen Abwesenheit von Volk und Heer auf der Theaterbühne, aber auch zu einem klanglichen „Rundum-Rausch-Erlebnis“, das selbst die lange Heimfahrt vom Opernhaus nachhaltig überdauert. Wann hat man zuletzt einen solchen Detailzugriff auf die textlichen Nuancen der Chorpassagen und auf die feinen, klanglichen Schichten der Massenszenen genießen können? Das verdient nur eine Bezeichnung: Grandios!
Dazu lässt GMD Gabriel Feltz seine Dortmunder Philharmoniker die gesamte Farbpalette der Partitur wunderbar ausleuchten. Überaus sängerfreundlich werden die Stimmen mit klaren Linien unterstützt, nie aber von den klanglichen Wogen aus dem Orchestergraben überflutet. Wenn Trompeten-Fanfaren und Chor aus dem Zuschauerraum agieren, kann hier und da noch an der Feinabstimmung gearbeitet werden, übrig bleibt aber ein Klangzauber von einzigartiger Intensität und voluminöser Großzügigkeit.
Dieser Lohengrin-Abend steht ganz im Zeichen von gesanglichen Spitzenleistungen der Extraklasse. Jahrelang wurde das Fehlen sogenannter „Wagner-Stimmen“ beklagt! In Sachen Textverständlichkeit, transparenter Diktion und stimmlicher Ausdruckskraft werden in Dortmund Maßstäbe gesetzt.
Joachim Goltz, fest engagiert am Nationaltheater Mannheim, ist im Wagner-Fach seit vielen Jahren erfolgreich unterwegs. Dem Opernpublikum im Ruhrgebiet ist er spätestens seit seinem fulminanten „Holländer“ vor zwei Jahren am Theater Hagen ein Begriff. Sein Friedrich von Telramund strotz geradezu vor baritonaler Gewalt und Durchschlagskraft. Dagegen scheint Shavleg Armasi als König Heinrich zu Beginn mit einigen hörbaren Problemen zu kämpfen. Er steigert sich aber im weiteren Verlauf, darf seine eigentliche Präsenz als Staatsoberhaupt und Feldherr bei diesem Regieansatz aber nicht ausleben. In diesem Lohengrin bleibt der König eine eher blasse Randfigur.
Ganz anders die Rolle des Heerrufers: Morgan Moody darf sich schauspielerisch mit einigen Extravaganzen in den Mittelpunkt spielen. Mit hochgegeltem Haar und gestenreichem Duktus, treibt er als eine Art Show-Moderator den Fortgang der Geschichte voran. Auch gesanglich weiss Moody diese Rolleninterpretation gekonnt zu unterstreichen.
Stéphanie Müther merkt man ihre Brünnhilden aus „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ in Chemnitz deutlich an. Wurde sie in der letzten Saison bereits als Turandot in Dortmund gefeiert, kann sie mit ihrer stimmgewaltigen und ungemein präsenten Ortrud noch einige Akzente mehr setzen. Dank ihrer meisterhaften Wandlung zwischen diabolischer, hasserfüllter Intrigantin und ihrer demütigen Unterwürfigkeit gegenüber Elsa wird der 2. Akt zum sprichwörtlichen „Ortrud-Akt“. Das ist großartig!
Die Entdeckung des Abends ist die Elsa der jungen Schwedin Christina Nilsson. Schon als Ariadne in „Ariadne auf Naxos“ in Frankfurt und Lausanne liess sie mehr als Aufhorchen, ihre Elsa in Dortmund ist eine Sensation! In jeder Silbe textverständlich und mit einer faszinierenden Leichtigkeit bewältigt sie ihr Rollendebüt. Wenn Christina Nilsson (sie ist noch keine 30 Jahre alt!) in Sachen Strahlkraft und Intensität noch hinzugewinnt, wird die junge Schwedin in wenigen Jahren schon zu den Kandidaten für die ganz großen Opernhäuser zählen. Brava! Welch ein Debüt an diesem Abend!
Auch in der Titelrolle gibt es ein Rollendebüt zu feiern: Daniel Behle hat sich das Wagner-Fach sorgsam und Schritt für Schritt erarbeitet. Loge, Froh, Erik, Walther von der Vogelweide und nicht zuletzt sein gefeierter Schusterjunge David in der Barrie-Kosky-Inszenierung der „Meistersinger von Nürnberg“ bei den Bayreuther Festspielen waren die Vorboten für die ganz großen Kaliber. Mit seinem Lohengrin in Dortmund singt der Hamburger seine erste Wagner-Titelrolle. Er ist ein leiser, hochsensibler Schwanenritter, der seine Stärken in den lyrischen Erzählungen hat. Er ist weniger Draufgänger, eher ein zurückhaltender Anti-Held. Die Gralserzählung gelingt ihm einfühlsam und mit berührender Emotionalität.
Am Ende bleibt die Frage, warum die Vertreter des sogenannten „Regietheaters“ Opernstoffe immer wieder krampfhaft in ein völlig neues Handlungs-Schema hineinpressen müssen. Im Fall des Dortmunder Lohengrin geht das gründlich schief. Zum Glück bereitet der eher kammermusikalische Blick auf die Geschichte aber die Startrampe für ein hochexplosives musikalisches Feuerwerk der Spitzenklasse. Das sieht nach dem Schlussvorhang auch das Publikum so und feiert Sänger, Chor und Orchester mit stürmischem Beifall im Stehen. Das Regieteam erntet neben dem Anstandsapplaus dagegen auch heftige Unmutsbekundungen und Buh-Rufe.
Trotz aller Ambivalenz zwischen musikalischer Darbietung und szenischer Umsetzung, die klare Empfehlung: unbedingt hingehen! Richard Wagner wird in den kommenden Jahren in Dortmund im Gespräch bleiben – so oder so…!
Die weiteren Termine: 8. und 14. Dezember 2019, 12. Januar 2020, 22. März 2020, 10. April 2020 und 22. Mai 2020
Ingo Luther, 1. Dezember 2019, für
klassik-begeistert.de
Musikalische Leitung, Gabriel Feltz
Regie, Ingo Kerkhof
Bühne,Dirk Becker
Kostüme, Jessica Rockstroh
Licht, Florian Franzen, Ralph Jürgens
Video, Philipp Ludwig Stangl
Dramaturgie, Laura Knoll
Heinrich der Vogler, Shavleg Armasi
Lohengrin, Daniel Behle
Elsa von Brabant, Christina Nilsson
Friedrich von Telramund, Joachim Goltz
Ortrud, Stéphanie Müther
Heerrufer des Königs, Morgan Moody
Chor, Fabio Mancini
Opernchor des Theater Dortmund,
Dortmunder Philharmoniker
Wäre ich Regisseur, ich würde das Angebot einer Lohengrin-Inszenierung ablehnen. Selbst Richard Wagner hatte mit der Figur des Lohengrin Schwierigkeiten und war mehr am Archetypischen interessiert. Vom katholischen Standpunkt aus ist die Gralsmystik ein Fetischismus, also Pseudoreligiosität.
Lothar Schweitzer
Wir können nicht das, was nicht katholisch ist, als pseudoreligiös bezeichnen! Wie arm, Herr Schweitzer! Es ist längst überfällig, auf die spirituellen Wurzeln unserer Kultur und Geschichte zu schauen, und endlich anzufangen, zu begreifen – mit Verstand und Herz , was für ein großartiges Erbe in den Gralserzählungen vorliegt. Dazu die außergewöhnliche, überirdische Musik von Wagner: man spürt, das da jemand ganz viel von der geistigen Welt begriffen hat!
Lamorna