Staatsoper Hamburg, 18. November 2018
Der Ring des Nibelungen
Siegfried
Zweiter Tag des Bühnenfestspiels von Richard Wagner
Foto: David Jerusalem (c)
Musikalische Leitung: Kent Nagano
Inszenierung: Claus Guth
Bühnenbild und Kostüme: Christian Schmidt
Licht: Michael Bauer
Siegfried: Andreas Schager
Der Wanderer: John Lundgren
Ein Gastbeitrag von Teresa Grodzinska
Mein drittes Rendezvous mit Wagners großer Musik ist Siegfried, der wilde Zögling von Mime, Sohn von Siegmund und Sieglinde, Enkel des göttlichen, wilden Wotan.
Das Vorspiel ähnelt jedes Mal mehr Filmmusik. Ich kann nicht anders – für mich ist Wagnersche Musik die Vorwegnahme all der Hollywood-Gefühls-Hits der 1950er- und 1960er-Jahre des 20. Jahrhunderts.
Der Vorhang geht auf, und wir erleben wieder eine Überraschung: einen Vater-Sohn-Schlafraum. Karg, chaotisch, etwas zwischen Einraumwohnung und Krankenstation. Vertrautes Bild aller Alleinerziehenden: kaum Zeit für sich, wenig Geld, also kein Kinderzimmer, Hausarbeit macht man zwischen Geldverdienen und Kindererziehung. Das Kind kommt immer zu kurz, also wird das Kind verhätschelt…
Der alleinerziehende Vater Mime wird von Jürgen Sacher wunderbar als ein überforderter Mensch zwischen Pflicht und Kalkül dargestellt. Mit Brille und Morgenmantel, hinkend und immer mit Hausarbeit beschäftigt.
Siegfried – ein holder Knabe, halb Gott, wie wir wissen, rebelliert gegen den Erzieher. Er spürt dessen kleinliches Wesen, nicht mal familiäre Ähnlichkeit kann er feststellen. Die Tragödie der Mutter ist ihm noch nicht bekannt, aber die Kluft zwischen ihm und Mime wird immer akuter. Der bemüht sich – vergeblich – um Autorität und Respekt. Der Knabe nabelt sich vor den Augen des Publikums ab und will in die große Welt.
Wen wundert es, dass ein Möchtegern-Maler aus unsteten familiären Verhältnissen aus der österreichischen Provinz sich mit diesem Siegfried so sehr identifizierte, dass er den Ausgang der Geschichte nicht wahrnehmen wollte. Sie umschreiben wollte? Verstehen heißt vergeben… Ich kann es. Ich bin nicht von hier.
Versetzen wir uns gedanklich für einen Moment in die 70er-Jahre des 19. Jahrhunderts. Wie revolutionär musste dieses Kinderzimmer dem Zuschauer vorkommen? Wie hat Wagner es geschafft, nicht ausgepfiffen, nicht zerrieben zu werden von all den despotischen patres familias?
Durch seinen Musik-Genius. Was die Musik zu “Siegfried” bietet ist – ja, Sie ahnen es –unbeschreiblich. Zitate aus der „Walküre“, aus dem „Rheingold“, Wiederholung der Themen, geschickt und unaufdringlich. Wir erkennen immer wieder einzelne Harmonie-Stränge, Bilder steigen in einem auf, Gefühle. Musikgenuss beruht auf Wiederholung. Daher das Wunder des Schlagers und Gassenhauers. Je öfter gespielt, umso beliebter…
Und so geschieht es auch in der Staatsoper Hamburg. Mehrere Zuschauer bewegen sich im Takt der ihnen bekannten und von ihnen geliebten Themen. Frauen eher bei Brünnhilde, Männer bei Wotan, Knaben (in Überzahl, alles Siegfrieds!!) lauschen gespannt den Rebellions-Themen. Aufstand gegen die Erziehungsberechtigten! Dem Großvater das Zepter aus der Hand schlagen! Ein eigenes Schwert mit eigenen Händen geschmiedet, dazu noch besser als andere Erwachsene es können. Große Themen der männlichen Pubertät – damals zu Wagners Zeiten wie auch zur Zeiten von Youtube und Justin Bieber. Großes Kino.
Die Szenographie ist kongenial. Weniger ist mehr. Gehen Sie hin! Restkarten sind noch vorhanden. Ich verstehe es nicht, aber jedes mal stehen vor der Abendkasse Menschen und bieten spottbillig KARTEN an. Für 6 Euro, habe ich mal flüstern gehört …
Ah ja, die Stimmen: die vielgepriesene Stimme von Andreas Schager ist für mich ein Missverständnis. Der Mann hat ein Organ. Diese Stimme ist ein Naturwunder. Sehr laut. Ohne Piano und Übergänge. Dafür werden die Silben verschluckt, sobald es leiser sein muss. Vielleicht muss er an seiner Nuancierung noch arbeiten. Vielleicht gehen mit ihm “die Pferde durch” bei dem Lärm. Was wissen wir schon über Gefühle von Tenören…
Der Wanderer (John Lundgren) stets fantastisch, nuanciert, auch beim Diminuendo und Piano und Pianissimo sehr gut hörbar. Wahrscheinlich ist es wie immer im Leben: Die einen mögen es schrill, die anderen stimmungsvoll.
Eine fantastische Szene fällt mir jetzt noch ein: Wotans Besuch in einer Bibliothek. Der Wanderer (Wotan, mit Schäfer-Hut und Speer) besucht und erweckt die Göttin Erda. Sie schläft einen ewigen Schlaf inmitten einer sterbenden Bibliothek. Bücher werden geschüttelt, es rieseln einzelne Blätter wie Herbstlaub darnieder. Ende des Gutenbergs-Zeitalter? War es das? Die beiden Alt-Liebhaber, Erda ist die Mutter Brünnhildes, fechten den letzten Machtkampf aus. Für all die Geschiedenen im Publikum ein bekanntes Spiel. Ich sah mehrere Damen leicht mit dem Kopf nicken – aber damals? In den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts? Scheidungen gab es fast gar nicht, nur in den Künstlerkreisen. Richard und Cosima waren schon einmal vermählt. Na ja, die Künstler, unstetes Volk. Was sagte eigentlich die Kirche zu Wagner? Hörten Päpste den „Ring”?
Der Saal und die Ränge waren mehr als voll. Wenn es weiter so geht, werden wohl Stehplätze für die “Gotterdämmerung” zum Verkauf angeboten für den 25. November 2018. Gaaaanz Hamburg wird an der Dammtorstraße sein. Und den Hamburger “Ring des Nieblungen” feiern. klassik-begeistert.de wird selbstverständlich dabei sein.
Teresa Grodzinska, 19. November 2018, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Sie müssen mir zwei Dinge erklären:
1.) Wie kann eine Stimme ein „Missverständnis“ sein?
2.) Wie erklären sie sich, dass zum Schlussapplaus das gesamte Haus bei Andreas Schager aufgestanden ist und ihm förmlich mit einem Orkan an Bravos überflutet haben? Haben die Hamburger alle keine Ahnung oder keinen Geschmack ?
Heinrich Müller
Lieber Herr Müller,
1. ich dachte, dass ich mich verständlich ausgedruckt habe. Habe ich nicht. Tut mir leid. Mir g e f i e l die Stimme von Herrn Schager n i c h t, vor allem im Vergleich mit der von John Lundgren. Die Technik – wieder im Vergleich – war nicht ausgereift. Die Dezibelgrößte: Nicht immer geht Quantität in Qualität über.
Das „Missverständnis“ bezieht sich auf die ewige Frage: Ist das Viel immer besser als Weniger? Ist das Weniger immer weniger gut? Eine Musikwissenschaftlerin und Opern-Liebhaberin, die neben mir saß (ich bin auf anderem Gebiet künstlerisch tätig, habe aber 14 Jahre Klavier gespielt und viele Konzerte besucht), war auch nicht aus von Herrn Schager überzeugt. Aber sie nahm die „Orkane“ mit Fassung. „Man müsste ihn noch einmal in kleinerem Rahmen hören“, sagte sie. Da ist was dran, dass machen wir beide, Sie und ich, oder? Und vergleichen die Wirkung mit der von Jonas Kaufmann zum Beispiel…
2. Wenn 10 Leute von 90 begeistert sind, zieht der Rest nach, um nicht als Kulturbanause zu wirken. Das ist der Herdentrieb, lieber Herr Müller. Der alte, bekannte Herdentrieb. Aber: Wenn 90 Menschen von 100 schön laut lange stehend klatschen, kann sich der Rest in aller Ruhe Gedanken machen. Ich habe mal geschrieben, dass das Publikum als ganzes ein untrügliches Gefühl für „gute“ Vorstellungen hat. Hat es wohl nicht immer…
Vor allem wenn es nicht um Instrumentalmusik geht, sondern um eine menschliche Stimme. Ein männliche noch dazu. Ein veritabler Mann mit einem Instrument im Hals, dass unbestritten eine außergewöhnliche Lautstärke aufweist, singt sehr laut. Phrasierung, Übergänge von laut zu ganz leise, die ganze Palette der Effekte – das war am diesen Abend im „Siegfried“ nicht vorhanden bei Herrn Schager.
Ich danke Ihnen für Ihr reges Interesse an der Oper als Gattung und – besonders – an Ihrem Interesse an meinen Gedankengängen. Bitte um mehr!
Teresa Grodzinska
Liebe Frau Grodzinskia,
welche Siegfrieds ziehen Sie für Ihre Bewertung denn als Vergleich heran? Ich habe jedenfalls in insgesamt knapp einem Dutzend gesehenen Siegfriedaufführungen keinen besseren Vertreter gesehen/gehört als Andreas Schager.
Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Ralf Wegner
Danke für Ihr Interesse, lieber Herr Wegner.
Ich ziehe keine Vergleiche. Ich kritisiere nicht, es ist ein Bericht. Ich war da, die Künstler, andere Zuschauer, das Orchester, wir alle waren dort… und Richard Wagner. Der muss präsent sein. Dem schulden wir Rechenschaft… Seine Idee des „Rings“ ist mir wichtig. Und er schrieb Gesamtkunstwerke. Nicht „Arien“ für Herrn Schager.
Dieser unbestritten lauteste Tenor der Welt wird momentan als „der“ Wagner-Interpret gehandelt. Er vergaloppiert sich stimmlich. Wird auch rumgereicht momentan wie kein anderer. Gestern in der „Götterdämmerung“ merkte man schon die Ermüdungserscheinungen. Das Publikum hat zwar applaudiert, aber bei weitem nicht so frenetisch wie noch eine Woche zuvor. Die Brünnhilde (Linda Lindstrom), die war grandios. Hat auch Raum dafür gehabt, da Siegfried im Verlauf des 3. Aufzugs nicht mehr unter uns weilte. 🙂
Liebe Grüße aus Hamburg
Teresa Grodzinska
Liebe Frau Grodzinska,
vielen Dank für Ihren Kommentar, auf den ich gern antworte.
Ob einem eine Stimme gefällt oder nicht, ist sicher individuell verschieden. Trotzdem sind für manche Rollen, wie hier den Siegfried, bestimmte Voraussetzungen notwendig, um der Partie gesanglich überhaupt gerecht zu werden. So verfügt Jonas Kaufmann, den Sie ja erwähnten, sicherlich über eine sehr ausdrucksstarke, emotional auch berührende Stimme; nur Wagners Siegfried würde er nicht überstehen. Dafür ist mehr Kraft und Höhensicherheit erforderlich, über die Andreas Schager verfügt wie sonst kein anderer der von mir zahlreich gehörten Siegfrieds. Für manche Rollen würde ich ggf. auch Kaufmann vorziehen, aber nicht für den Siegfried. Schagers sängerische Gestaltung passt mit dem rabaukenhaften jugendlichen Überschwang genau zum Siegfried, der als Person eben weniger differenziert ist als beispielweise ein Werther (den Kaufmann hervorragend singt). Insoweit war die große Akklamation des (wagnererfahrenen) Publikums nach der Siegfried-Aufführung völlig nachzuvollziehen.
Nachvollziehen kann ich dagegen nicht Ihre außerordentlich positive Bewertung der sängerischen Leistung von Frau Lise Lindstrom als Brünnhilde. Sie ist zwar höhensicher und im Forte auch klangvoll (Hojotohos), verfügte aber zur Mittellage hin nicht über genügend stimmliche Substanz, um weite Partien der Brünnhilde adäquat zu gestalten (Todesverkündung oder „War es so schmählich“ in der Walküre); im Schlussbild Siegfried fehlte es ihr dann völlig an Substanz, um sängerisch zu überzeugen (bis auf die letzten Minuten im Hochtonbereich). In der Götterdämmerung war sie, da gebe ich Ihnen Recht, besser, denn da war die Mittellage auch nicht so gefordert. Anders als Andreas Schager blieb Frau Lindstrom darstellerisch aber immer noch leicht unterkühlt, zumindest optisch erwiesen sie sich aber als ein schönes und überzeugendes Liebespaar mit einem auch von der Inszenierung her berührenden Schluss.
Mit freundlichen Grüßen, Ihr Ralf Wegner