Wer wie wir diese Musik liebt und sich mitreißen lassen möchte, hat übrigens noch am 19. März 2023 Gelegenheit, die beiden im Haus der Sinne in Berlin Prenzlauer Berg zu erleben.
Schwartz’sche Villa, Berlin, 18. März 2023
Rivkas Khasene – Rivkas Hochzeit
Sabine Furrer – Violine und Moderation
Jule Seggelke – Akkordeon, Klavier und Moderation
von Sandra Grohmann
Klassischen Klezmer darf man wohl nennen, was vor über hundert Jahren und damit vor der Unterscheidung zwischen „E“ und „U“ entstand und später jedenfalls sehr lange Zeit in der Kiewer Vernadskyj Nationalbibliothek schlummerte; auch wenn sich in den rund 1.500 Stücken gleichermaßen Tanz- wie Salonmusik findet, sind es doch die typischen jiddisch-osteuropäischen Klänge, bei denen es dem Publikum schwer fällt, auf den Sitzen zu bleiben. Die Mischung aus Melancholie und Munterkeit kennzeichnet nicht nur diese Musik, sie spiegelt sich im ganzen Programm: In der Sammlung an sich, die in der stolzen und angegriffenen Ukraine bewahrt wird. In der heraufbeschworenen, in weiten Teilen zerstörten jiddischen Kultur. Und in der Beschreibung eines Hochzeitstages zweier Menschen. Haben sie aus Liebe zueinander gefunden? Oder wurden sie aus Kalkül einander zugeführt? Vielleicht auch haben sie eine arrangierte Ehe geschlossen, in der sie schließlich doch die große Liebe erleben werden?
Sabine Furrer und Jule Seggelke, die das Programm schon mehrmals erfolgreich in der Schweiz präsentiert haben, führen nun in Berlin anschaulich und immer sicheren Tritts auf dem schmalen Grat zwischen ernstem und frohem Sinn durch das Programm, das sie nicht nur zusammengestellt haben: Die Kiewer Sammlung archiviert allein die Melodien. Wer sie spielt, muss sie sozusagen noch eingekleiden. Die Musikerinnen selbst verantworten also das Arrangement und dürfen sich darin austoben. Das gelingt den beiden vorzüglich. Da unterhalten sich Zwei vermittels ihrer Instrumente, kommentieren, werfen ein, übernehmen die Stimmführung, drängen voran ohne zu treiben und harmonisieren sich im Wortsinne – auch die konkret gespielten Harmonien der Begleitung stammen nämlich, so will es die Tradition, von ihnen.
Selbstverständlich bleiben sie dabei der typischen Klezmer-Harmonik treu. Meine ukrainische Begleiterin fühlt sich demgemäß an die Klänge erinnert, die sie aus nicht allzu ferner Zeit von Odessa her kennt. Mir selbst kam Vieles aus der griechischen Tradition bekannt vor – und wenn die moderierenden Musikerinnen uns sagen, dass bulgarische und türkische Anklänge schon in den Namen der Stücke auftauchen, und außerdem, dass Schrittfolgen eines Tanzes auch in der arabischen Welt zu finden sind (freilich zu anderer Musik), dann leuchtet das unmittelbar ein und zeigt Zusammenhänge auf, die in Zeiten wiedererstarkender Nationalstaatlichkeit vielleicht nicht immer so offensichtlich scheinen.
Zurück aber zum Einzigartigen des jiddischen Festes. Wir erleben an diesem Konzertabend einen ganzen Hochzeitstag mit, den die Musiker zur Entstehungszeit dieser Musik, also 1912-14, vom Morgen bis zum Abend nach einem festgelegten Schema gestalteten. Es geht vom Abholen der Braut mit den heftigen Klageweisen der weiblichen Familienmitglieder (in strenggläubigen Familien wird der Braut zu diesem Zeitpunkt der Kopf geschoren) über den Hochzeitsbaldachin bis zu den Tänzen und schließlich dem Nachhausegeleiten der Gäste durch die Gassen. All dies gab damals und gibt heute den Musikerinnen reichlich Gelegenheit, ihre Virtuosität unter Beweis zu stellen. Und davon machen Sabine Furrer und Jule Seggelke zu unserem Vergnügen ausführlich Gebrauch. Sie reißen uns mit, wenn sie die brechend volle Schwartz’sche Villa in Berlin-Steglitz mit klagenden und heiteren Tönen fluten, und ebenso, wenn sie mit virtuos fliegenden Fingern und hörbarem Herzblut halsbrecherische Läufe hinlegen.
Zum Abschluss des Programms heißt es mit einem schön langsamen Stück „gute Nacht“ – aber das funktioniert so nicht. Zwei Zugaben erklatscht sich das Publikum. Nach dem Rausschmeißer wären auch noch mehr willkommen gewesen, so stark war der Suchtfaktor. Aber die Künstlerinnen haben verständlicherweise (ab-) gewunken und nun wirklich gute Nacht gewünscht.
Wer wie wir diese Musik liebt und sich mitreißen lassen möchte, hat übrigens noch am 19. März 2023 Gelegenheit, die beiden im Haus der Sinne in Berlin Prenzlauer Berg zu erleben.
Sandra Grohmann, 19. März 2023, für
Klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Interview mit Na’ama Goldman von Birgit Koß klassik-begeistert.de, 18. März 2023
Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue Komische Oper Berlin, 10. Juni 2022 PREMIERE
Ein schöner Artikel, der auch einen plastischen Einblick in dieses Erlebnis vermittelt. Vielen Dank dafür.
Verziehen Sie mir bitte auch deshalb meine kleine Anmerkung:
In Anbetracht der aktuellen weltpolitischen Lage würde ich persönlich es bevorzugen, den Stadtnamen „Kyjiw“ (nach ukrainischem Vorbild) und nicht „Kiew“ (nach russischem Vorbild) zu schreiben.
Aber das ist jetzt – wie gesagt – eine rein persönliche Vorliebe. Bitte lassen Sie sich nicht davon aufhalten 😉
Grüße,
Daniel Janz