Foto © Milagro Elstak
Das Projekt „All of Bach“
von Dr. Rudolf Frühwirth
Die Niederländische Bachvereinigung (Nederlandse Bachvereniging, NBV) wurde im Jahr 1921 gegründet und gab am Karfreitag des folgenden Jahres in der Grote Kerk in Naarden ihr erstes Konzert, mit der Matthäuspassion (BWV 244) auf dem Programm. Damit begründete sie eine Tradition, die mit wenigen Unterbrechungen bis heute anhält. Im Jahr 1983 wurde Jos van Veldhoven zum künstlerischen Leiter bestellt, und 1984 wurde die Matthäuspassion in Naarden zum ersten Mal auf historischen Instrumenten gespielt.
Als Vorbereitung auf das hundertjährige Jubiläum in der Saison 2021/2022 rief die NBV auf Anregung von Jos van Veldhoven 2013 das Projekt „All of Bach“ ins Leben. Das erklärte Ziel war und ist, alle Werke von Johann Sebastian Bach in musikalisch und technisch höchstmöglicher Qualität auf Video aufzuzeichnen und Bachfreunden in aller Welt kostenlos zugänglich zu machen. Ein wahrhaft titanisches Unterfangen! Sehr bald stellte sich heraus, dass der Zeitrahmen bis zum Jubiläum zu eng angesetzt war; dazu kamen in den letzten Jahren Behinderungen durch die vom Corona-Virus ausgelöste Pandemie, sodass manche Aufzeichnungen ohne Publikum gemacht werden mussten. Im Jahr 2108 löste Shunske Sato, Konzertmeister der NBV seit 2013, Jos van Veldhoven als künstlerischen Leiter ab.
Die Musik und die Interpretation
Die außerordentliche musikalische Qualität der Aufnahmen hat mich von Anfang an begeistert. „Musik als Klangrede“, einer der Leitgedanken des großen Nikolaus Harnoncourt, wird hier Wirklichkeit. Die bunten Klangfarben der historischen Instrumente, die Transparenz der Stimmen, die mitreißende Dynamik, und schließlich die perfekte Artikulation und Phrasierung kommen der für mich idealen Interpretation verdächtig nahe. Gepaart mit einer bei jeder Aufführung spür- und sichtbaren Begeisterung für das Werk ergibt sich ein mitreißender Gesamteindruck, der so manche andere Interpretationen blass und konventionell erscheinen lässt. Im Folgenden stelle ich einige wenige meiner Lieblingsaufnahmen kurz vor.
Matthäuspassion BWV 244
Die „Matthäuspassion“ ist sozusagen das Aushängeschild der NBV. Die für „All of Bach“ aufgezeichnete Aufführung in der Grote Kerk von Naarden stammt aus dem Jahr 2014. Jos van Veldhoven leitet das Ensemble der NBV und den Knabenchor aus Kampen in den Niederlanden. Neben den neun Solist/inn/en in den beiden Chören sind nur noch neun weitere Gesangsstimmen im Ripieno besetzt. Wie immer in den Aufnahmen der NBV singen die Solostimmen – mit Ausnahme des Evangelisten – auch im Ripieno mit. Auch die beiden Orchester sind mit weniger als jeweils zwanzig Instrumentalisten recht klein besetzt. Dadurch ergibt sich ein wunderbar transparentes Klangbild mit perfekter Balance zwischen Orchester und Gesang. Dazu trägt natürlich auch die Exzellenz der Mitwirkenden bei, einschließlich der sechs Knabensoprane. Wer nicht die Geduld hat, das gesamte Werk durchzuhalten, möge nur den Eingangschor anhören; er erschüttert mich jedes Mal von Neuem.
Orchestersuite Nr 2 h-moll BWV 1067
Eine hinreißende Aufnahme mit dem Ensemble der NBV, geleitet von Shunske Sato, und dem fabelhaften Marten Root an der Querflöte. Root spielt ein historisches Instrument aus Holz, das sich perfekt in der barocken Streicherklang einfügt. In einem Begleitvideo meint der Solist, er wollte und müsste sich in einem guten Teil des Werks der Phrasierung der Streicher anpassen, ja wie ein Streicher denken. Das beträfe vor allem die punktierten Passagen in der Ouverture. Die Streicherbesetzung ist relativ groß, jedoch spielen in etlichen Passagen die Streicher solistisch, sodass sich ein raffiniertes, dynamisch abgestuftes und abwechslungsreiches Klangbild ergibt. Im letzten Satz, der bekannten „Badinerie“ – übrigens im Manuskript als kriegerisch zu lesende „Battinerie“(!) bezeichnet – kann Root seine Virtuosität voll zur Geltung bringen. Der für die NBV typische „Drive“ – ich weiß kein passendes deutsches Wort dafür – charakterisiert auch diese Aufnahme.
Partita für Violine Nr 2 d-moll BWV 1004
Die zweite Partita in d-moll ist sicher das bekannteste Werk aus dem Zyklus der sechs Sonaten und Partiten für Solovioline, BWV 1001-1006. Shunske Sato, der Geiger und künstlerische Leiter der NBV, hat sie im Juni 2019 in der Lichtfabriek in Haarlem aufgezeichnet. Seine spielerische Brillanz und Leichtigkeit lässt den Zuhörer alle technischen Schwierigkeiten vergessen, die die Partita, und ganz besonders die berühmte Chaconne, bietet. Ich konzentriere mich hier auf den ersten Satz, die Allemande. Satos Interpretation ist ein perfektes Beispiel für Musik als Klangrede. Noch selten habe ich eine Geige so ausdrucksvoll „sprechen“ gehört. Die Artikulation und Phrasierung macht aus den trockenen Noten einen Monolog oder auch Dialog, ein Folge von Fragen und Antworten, von Ausrufen und Seufzern, unterbrochen durch gelegentliches Atemholen, wie es eine lange Rede eben erfordert. Feinste dynamische Schattierungen modulieren den Redefluss und bringen Leben in die musikalische Sprache.
Zur Chaconne, diesem Gipfelpunkt der europäischen Musik, fällt mir nur ein Satz von Ludwig Wittgenstein ein: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Hier spricht die Musik selbst, wir müssen ihr nur demütig zuhören. Ganze sieben Personen waren als Publikum bei dieser Aufzeichnung zugelassen – ich wünschte, ich wäre eine von ihnen gewesen.
Kantate „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ BWV 140
Das Kantatenwerk ist der wichtigste Teil von Bachs Musikschaffen. Unter den vielen Kostbarkeiten habe ich BWV 140 ausgesucht, „Wachet auf, ruft uns die Stimme“. Die Aufnahme entstand 2018 in der Waalse Kerk (Wallonische Kirche) in Amsterdam. Jos van Veldhoven leitete das Ensemble der NBV. Die Solostimmen wurden von vier bewährten Gastsolisten gesungen: Marie Keohane (S), Tim Mead (A), Daniel Johannsen (T) und Matthew Brook (B). Die acht Ripienostimmen wurden wie meist aus dem Ensemble besetzt.
Bach hat die Kantate am 27. Sonntag nach Trinitatis des Jahres 1731 uraufgeführt. Der Text hängt eng mit den für diesen Tag vorgesehen liturgischen Text (Lesung und Evangelium) zusammen. Der der Kantate zugrundeliegende Choral von Philipp Nicolai wird dreimal verwendet: im Eingangschor (Satz 1), in der vom Tenor gesungenen Choralbearbeitung (Satz 4), und im Schlusschoral (Satz 7). Dazwischen schildern zwei Duette die Verbindung Jesu mit der menschlichen Seele ähnlich einer irdischen Hochzeit. Das zweite Duett könnte ohne weiteres als Liebesduett in einer Oper durchgehen, wenn Bach denn Opern komponiert hätte. Eine schönere Interpretation dieses kleinen Juwels kann ich mir kaum vorstellen.
Die Kunst der Fuge BWV 1080
Für das „summum opus“ des Kontrapunkts hat Bach bekanntlich keine Instrumentierung angegeben. Obwohl eine Ausführung auf Cembalo oder Orgel möglich ist, hat Shunske Sato eine Fassung für das Ensemble der NBV erarbeitet, die sowohl Instrumente als auch die menschliche Stimme einsetzt. Die „Instrumentierung“ ist fein auf die Charakteristik der Contrapuncti und Canons abgestimmt. Sie zeigt nicht nur klar das erstaunliche emotionale Spektrum des Werks, sondern hilft dem Hörer auch, die Struktur der Fugen besser zu verstehen und die bewundernswerten kontrapunktischen Kunstgriffe leichter zu erkennen.
Der erste Contrapunctus beginnt mit vier menschlichen Stimmen, begleitet nur von Leo van Doeselaar an der Orgel – ein wahrhaft humanistischer Beginn des Zyklus. Der zweite Contrapunctus wird von einem Gambenquartett gespielt, der dritte von einem Quartett aus Zink, Oboe da caccia und zwei Posaunen. Im sechsten Contrapunctus treten zum ersten Mal Instrumente und Stimmen zusammen. Der neunte mit seinen lebhaften Läufen ist eine offenkundige Hommage an die „Swingle Singers“. So geht es abwechslungsreich weiter durch die restlichen Contrapuncti und Canons.
Die Aufnahme ist in fünf Gruppen gegliedert, die jeweils von einer Strophe des Chorals „Wenn wir in höchsten Nöten sein“ abgegrenzt werden. Nach der letzten Choralstrophe folgt der letzte, unvollendete Contrapunctus 18. Der als Tripelfuge angelegte Contrapunctus wurde von Kees van Houten und Leo van Doeselaar rekonstruiert und bildet einen überwältigenden Abschluss der großartigen Aufnahme. Er beginnt wie der erste Contrapunctus zart mit Singstimmen und Orgelbegleitung. Nach und nach treten mehr Instrumente dazu, Streicher wie Bläser, und wenn nach 192 Takten dichter kontrapunktischer Arbeit das Thema B-A-C-H im Fagott ertönt, öffnet sich der musikalische Himmel, und es bleibt ein großes Staunen, dass ein Mensch ein solches Wunderwerk erschaffen konnte.
Technische Details
Die Aufzeichnungen fanden und finden in verschiedenen Städten in den Niederlanden statt, in Kirchen und Konzertsälen oder auch in Privatwohnungen. Die NBV achtet stets darauf, für ein Werk oder eine Werkreihe den passenden Aufnahmeort zu finden. Bei solistischen oder kammermusikalischen Aufführungen sind oft nur wenige oder keine Zuhörer/innen zugelassen, in Konzertsälen oder Kirchen ist der Raum meist voll besetzt. Viele Aufnahmen wurden und werden bei Abonnementkonzerten gemacht, wo neben Bach auch Werke anderer Komponisten erklingen. Andere Aufnahmen werden unabhängig von regulären Konzerten vorbereitet, geprobt und auf Video aufgenommen. Mit Stand von Mitte 2023 sind etwa 450 Werke aufgezeichnet. Von manchen Werken existieren zwei Aufzeichnungen, zum Beispiel von der Johannes-Passion (BWV 245): die Originalversion aus 1724 wurde im Jahr 2017 unter der Leitung von Jos van Veldhoven aufgezeichnet, die veränderte Version aus 1725 im Jahr 2021 geleitet von René Jacobs.
Die absolute Stimmung der Instrumente orientiert sich am Ort der Erstaufführung. Der Kammerton ist zum Beispiel 465 Hz für die Weimarer Kantaten, 415 Hz für die Leipziger Kantaten, und 400 Hz für die Brandenburgischen Konzerte und die Violinsonaten/Partiten. Der Notentext ist meist die Neue Bachausgabe des Bärenreiterverlags, es werden aber auch Faksimileausgaben der Manuskripte zu Vergleichszwecken herangezogen. In den Kantaten sind die solistischen Altstimmen fast durchgehend mit Männern besetzt. Ich würde mir wünschen, dass hier öfter Frauen zum Zug kommen – ich finde, dass auch ein sehr guter Altsolist nicht immer die Geschmeidigkeit und Ausdruckskraft einer Sängerin erreicht.
www.youtube.com/bach
Für die hervorragende Tonqualität der Aufnahmen ist die Firma Azazello in Haarlem verantwortlich. Ich höre die Aufnahmen meist mit einem sehr guten Kopfhörer, gespeist von einem Kopfhörerverstärker mit Digital/Analogwandler, der über Kabel das Digitalsignal aus dem Rechner empfängt. Von der Benützung des analogen Ausgangssignal des Rechners rate ich ab. Die Videoregie ist ebenfalls mustergültig und vereint sich mit der Musik zu einem wunderbaren Gesamteindruck. Seit 2018 sind alle Aufzeichnungen auf dem YouTube-Kanal www.youtube.com/bach gespeichert und können in aller Welt kostenlos abgerufen werden. Sie sind überdies durch wertvolle Hintergrundinformation ergänzt, typischerweise eine kurze Werkeinführung, Besetzung, Interviews mit Ausführenden und gegebenenfalls Gesangstexte.
Danksagung
Ich danke Bernadett Nagy und insbesondere Marloes Biermans für ihre wertvollen Informationen über die künstlerische und technische Arbeitsweise der NBV. Mein besonderer Dank geht an Leo van Doeselaar, der mir die Partitur der „Kunst der Fuge“ zur Verfügung gestellt hat. Schließlich danke ich Brechtje van Riel für die Fotografien aus dem Archiv der NBV.
Dr. Rudolf Frühwirth, 9. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dr. Rudolf Frühwirth kam 1952 in Wien zur Welt und wohnt dort im 4. Bezirk. Seit er im zarten Alter von 14 Jahren in der Staatsoper „Salome“ gesehen und gehört hat, ist er dieser Kunstform rettungslos verfallen. Davon zeugen hunderte Abende „am Stehplatz“, mittlerweile auch auf Sitzplätzen. Durch das Klavierstudium ist er auch konzertanter Musik nähergekommen und war und ist auch häufig im Wiener Konzerthaus und Musikverein Wien anzutreffen. Nach dem Studium der Technischen Mathematik war er bis zur Pensionierung als Forscher an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften tätig und lehrt derzeit an der TU Wien. Da er häufig beruflich wie privat unterwegs war, hat er auch viele Opernhäuser außerhalb Wiens besucht wie Paris, London, Hamburg, Dresden, München und Budapest. Durch ein zufälliges Zusammentreffen – erstaunlicherweise nicht in der Oper, sondern bei Kieser Training in Wien – ist die Bekanntschaft mit dem Herausgeber und die Mitarbeit an klassik-begeistert.de entstanden. Er liebt Musik von Bach bis Cerha und freut sich über die Möglichkeit, seine Musikbegeisterung in Worte zu fassen und andere daran teilhaben zu lassen.
CD-Tipp, Johann Sebastian Bach, Sonaten und Partiten klassik-begeistert.de
Johann Sebastian Bach, Kantaten, Wiener Konzerthaus, Mozart-Saal, 25. Februar 2022