Das war mehr als groß, das war mehr als Weltklasse – das war im wahrsten Sinne des Wortes fabelhaft!

Salzburger Festspiele, Pittsburgh Symphony Orchestra, Manfred Honeck, Anne-Sophie Mutter, Witold Lutoslawski, Peter I. Tschaikowski,  Großes Festspielhaus, Salzburg

Foto © Marco Borrelli
Salzburger Festspiele
, Großes Festspielhaus, Salzburg, 29. August 2017
Pittsburgh Symphony Orchestra unter der Leitung von Manfred Honeck; Anne-Sophie Mutter (Violine)
Witold Lutoslawski:
Partita für Violine und Orchester, Interlude, „Chain 2“
Peter I. Tschaikowski: Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathétique“

von Raphael Eckardt

Mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra war zum konzertanten Abschluss der Salzburger Festspiele 2017 ein amerikanisches Traditionsorchester zu Gast, das sich in den vergangenen Jahren vor allem der musikalischen Perspektivschreibung verschrieben hat. Viele zeitgenössische Komponisten stehen seither auf dem Programm, teilweise Werke, deren Aufführungen man in den letzten 50 Jahren weltweit an zwei Händen abzählen kann. Am Pult steht seit 2008 passenderweise ein stolzer Österreicher: Manfred Honeck war lange als Bratscher bei den Wiener Philharmonikern aktiv – bis er eines Tages die Seiten wechselte und in Pittsburgh ein kraftvolles Ensemble gefunden hat, das seinen praktischen Erfahrungsschatz, der freilich überwiegend europäisch geprägt ist, zu schätzen weiß.

Wie sehr sich Honeck dessen bewusst ist, was hierzulande aktuell über Amerika gedacht wird, bewies vor allem seine feinfühlige Konzertführung: Auf dem Programm standen an diesem Abend zwei Komponisten aus Ländern, mit denen Amerika – vorsichtig formuliert – in den letzten Jahren nicht immer die besten diplomatischen Beziehungen zu pflegen wusste: Witold Lutoslawski (Polen) und Peter I. Tschaikowsky (Russland).

Dass Honecks Orchester bei zwei von drei Werken Lutoslawskis auf die sensationelle Geigensolistin Anne-Sophie Mutter zurückgreifen durfte, war überraschenderweise lediglich als Randnotiz angekündigt worden. Dies war insofern aber nicht unbedingt als Fauxpas der Salzburger Konzertorganisation zu bewerten, hatte Mutter doch schon vergangenen Samstag im Zusammenspiel mit Lambert Orkis unwahrscheinlich brilliert und so bereits für ihr persönliches Highlight bei den diesjährigen Festspielen sorgen können. Dennoch sollte ihr Auftreten gerade bei Lutoslawskis Werken für ein ganz besonderes, emotionales Momentum sorgen.

Eröffnet wurde der Konzertabend durch dessen Partita für Violine und Klavier. Zwei der berühmtesten Geigenvirtuosen unserer Zeit sind mit der Entstehungsgeschichte dieses außergewöhnlichen Werkes eng verknüpft: Die Originalfassung für Violine und Klavier entstand 1984 im Auftrag von Pinchas Zukerman, 1988 dedizierte Lutoslawski ebenjener Anne-Sophie Mutter ein Orchesterarrangement desselben Werkes, das Mutter in den Folgejahren dann auch unter Leitung des Komponisten selbst höchst erfolgreich auf CD einspielte: Eine Situation, die mancher an Mutters Stelle vielleicht als schwere Last bezeichnen mag, aber eben auch eine Situation, die feinfühlige Kritik an der musikalischen Interpretation Mutters enorm schwierig macht.

Neobarocke Tendenzen verbinden sich in Lutoslawskis Werk mit Aleatorischem. Honeck und das Pittsburgh Symphony Orchestra kreieren gleich zu Beginn einen furiosen Herbststurm, der über Salzburgs Dächer in kreisenden Strudeln hinwegzuwehen scheint. Beim ersten Einsatz von Mutter wird alles noch aufbrausender: Schnelle Achtelläufe am Rande der Tonalität verbreiten Chaos und Verwüstung. Plötzlich mündet alles in einen Melodiefetzen. Aber da ist nicht mehr als ein Fetzen! Sturm, Melodie, Sturm, Melodie! Lutoslawskis Werk kommt nur schwer bis gar nicht zur Ruhe. Auch weil Mutter und Honeck nicht ruhen wollen. Gekonnt spielen sie mit aufbrausenden Emotionen des Publikums: Hier eine markante Akzentierung, da gekonnt phasenverschobene Phrasierungen.

Erst im zentralen Largosatz kehrt ein wenig Ruhe ein. Mutter kann hier das Herzstück ihres Geigenspiels, ihren zauberhaften, satten Ton voll ausspielen und auskosten. Im finalen Presto ist dann wieder alles dahin: Emotionale Fetzen fliegen wild durch den Konzertsaal. Obwohl alles im ersten Moment wie ein riesengroßes Chaos wirkt, kann man bei genauem Hinhören eine strikte Ordnung innerhalb der musikalischen Strukturen erkennen. Für diese Ordnung sorgt ein fabelhaft aufgelegter Honeck, der sich als Mephisto Lutoslawskis gibt: Stets am Rande des Wahnsinns (manchmal auch dahinter), aber teuflisch durchdacht und voller Magie. Fantastisch!

Bei Lutoslawskis „Interlude“ knüpfen Honeck und sein Orchester nahtlos an die famose Leistung des Eröffnungsstückes an: Geschickt werden einzelne Strukturfäden zu einem Gewebe umsponnen, das tiefmystisch anmutet. Da ist eine Jahrhunderte alte, gotische Klangkathedrale aus grauen Felsen zu hören, die so unheimlich, aber gleichzeitig so imposant daherkommt, dass sie den Zuhörer bis ins Tiefste verunsichert. Dezente Holzbläsermotive sorgen für noch mehr Verwirrung: Plötzlich senkt sich dichter Nebel von der Decke in den Saal. Alles ist verschleiert, alles ist vernebelt. Aber alles ist von einer Magie durchdrungen, die tief beeindruckt und rührt. Das sind Klangflächen in ihrer höchsten Kunstform. Fabelhaft!

Mit „Chain 2“ kehrt dann Mutter auf die Bühne zurück. Ein Dialog zwischen Violine und Orchester wird da geboten, der feinfühliger nicht sein könnte. Auch dieses Werk hat Lutoslawski der deutschen Ausnahmegeigerin gewidmet, auch dieses Werk hat Mutter auf CD ersteingespielt. Und auch dieses Werk interpretiert sie famos! Mit „Chain 2“ ist Mutter bereits seit einem Vierteljahrhundert unterwegs. Ihr halbes Leben lang hat sie dieses Stück im Repertoire, ihr halbes Leben lang hat sie sich mit dieser Musik auseinandergesetzt. Das merkt man an jedem Ton: Da ist nichts dem Zufall überlassen. Alles wirkt durchdacht, alles wirkt fein konzipiert. Mutter gibt sich als intelligente Dialogpartnerin, die nichts Unüberlegtes sagt, die nicht lange überlegen muss und die Honecks Orchester durch ihre klangliche Mannigfaltigkeit enorm bereichert. In geradezu unheimlicher Art bleibt sich Mutter musikalisch treu, egal, ob sie makellos durch eine „ad libitum“-Passage steuert, oder in strengem Rhythmus die Begleitstimme gibt. Das ist ganz, ganz große Klasse!

Peter Tschaikowskis „Pathétique“ interpretiert Honeck ebenfalls in emotionaler Höchstform. Da werden hier und da völlig zurecht die Taschentücher herausgeholt. Freilich, diese Sinfonie kann man gut und gerne auch als instrumentales Requiem bezeichnen. Was Honeck in ihr sieht, ist sagenhaft und noch eine Stufe darüber: Jede klitzekleine Melodiephrase findet an diesem Abend ihre Daseinsberechtigung. Jedes kleinste Klagen in den Holzbläsern findet bei Honeck ein offenes Ohr. Die Darbietung des Pittsburgh Symphony Orchestra ist phänomenal. Unfassbares musikalisches Fingerspitzengefühl vermischt sich mit einzigartigem Facettenreichtum. Tschaikowski hat der Sechsten ein Thema gegeben, das ihm selbst zu persönlich schien, um es zu veröffentlichen. Über die wahre Geschichte, die in dieser Musik steckt, kann man daher nur mutmaßen. Manfred Honeck hat dies auch getan – und eine Interpretation gefunden, die vielleicht nicht ganz dem entspricht, was Tschaikowski ursprünglich in seiner Musik sah, die aber vielmehr die Leute unserer Zeit und unserer Gesellschaft emotional erreicht.

Mit einer herausragenden Leistung verabschiedet sich das Pittsburgh Symphony Orchestra aus der Mozartstadt wieder Richtung Amerika. Mit einem stolzen Wiener am Pult, der in Salzburg auf den Punkt eine Fabelleistung abgeliefert hat, die eigentlich unübertreffbar ist. Und Anne-Sophie Mutter? Die hat sich an diesem Abend wieder einmal ein bleibendes Denkmal geschaffen. Da fehlen einem vor Ehrfurcht die Worte. Das war mehr als groß, das war mehr als Weltklasse, das war im wahrsten Sinne des Wortes fabelhaft!

Raphael Eckardt, 30. August 2017, für
klassik-begeistert.de
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