Foto © Marco Borrelli
Salzburger Festspiele, Großes Festspielhaus, Salzburg
28. August 2017
Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Sir Simon Rattle
Dimitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 1 in f-Moll (op. 10) und Sinfonie Nr. 15 in A-Dur (op. 141)
von Raphael Eckardt
Die üblen Zeitungsartikel gegen ihn in der Prawda? Weit entfernt. Der wechsellaunische Josef Stalin, der seinen Hofkomponisten morgens noch in den Himmel lobt, um ihm abends dann mit der Deportation zu drohen? Noch keine Rede davon. Als Dimitri Schostakowitsch im Jahr 1926 seine Abschlussarbeit am Konservatorium vorlegt, sind alle schwer begeistert: Lehrer, Publikum, die Kunstwelt.
Schostakowitschs Liebe zu seiner Heimat ist in dieser Lebensphase noch ungebrochen; das ist wohl auch der Grund, weshalb seine 1. Sinfonie ohne diese bittersüße sarkastische Gestalt daherkommt, die in Schostakowitschs späteren Kompositionen zur Normalität werden sollte. Witz, Virtuosität, Ironie: All das, was Schostakowitsch auch später einmal künstlerisch auszeichnet, ist in seiner recht selten gespielten Ersten in einer jugendlichen Reinform zu finden. Sie offenbart, was dieses Genie, noch frei von zahlreichen Schicksalsschlägen, musikalisch so einzigartig macht.
Simon Rattle ist seit langem bekennender Schostakowitsch-Fan. Immer wieder hat er sich in den vergangenen Jahrzehnten für diesen lange verschmähten russischen Großmeister unter den Komponisten eingesetzt. Immer wieder hat er dessen Genie erkannt, das von vielen seiner Zeitgenossen leider lange verkannt blieb. Mittlerweile darf man die musikalische Qualität Schostakowitschs Gott sei Dank auf eine Ebene mit Johann Sebastian Bach stellen ohne sich ständig rechtfertigen zu müssen. Auch dank Simon Rattle! Denn kaum ein anderer Komponist zeichnet sich durch einen so transparenten Kompositionsstil aus, der jeden Ton ehrlich rechtfertigen kann und musikalisch überflüssige Elemente voll und ganz vermeidet. Mozart nicht, Beethoven nicht, Schubert nicht.
Da ist es umso interessanter, dass Rattle bei seinem Abschlusskonzert als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker bei den Salzburger Festspielen ein Schostakowitsch-Programm wählt, das gegensätzlicher nicht sein könnte: Seine 1. Sinfonie aus dem Jahr 1926 nämlich, kombiniert mit seiner 15. Sinfonie (und letzten) aus dem Jahr 1971. Circa 50 geschichtsträchtige Jahre liegen zwischen beiden Werken, die auch am Komponisten nicht spurlos vorübergegangen sind. Das Konzertpublikum durfte sich auf eine musikalische Zeitreise des letzten Jahrhunderts freuen, die auch vor Grauen und Schrecken keinen Halt macht.
Was an Schostakowitsch Erster schwierig zu dirigieren ist, das ist ihre Kleinräumigkeit, ihre Kleinzelligkeit, die durch permanente Tempowechsel entsteht. Ohne eine gute Tempodramaturgie können hier keine Emotionen entstehen. Dazu kommt, dass der Eindruck einer gewissen Leichtigkeit und Frechheit entstehen muss, der aber auf keinen Fall überdreht werden darf. Denn eine Selbstparodie ist diese Sinfonie wahrlich nicht. All das gelingt Rattle an diesem Abend seltsamerweise nur verhalten: Hier und da wird zu viel nachgedrückt, Tempowechsel gelingen selten fließend, sondern werden zu klar herausgestellt. Das Resultat ist ein zerhacktes Werk, das anstatt kleinzellig eher „keinzellig“ und fragmenthaft wirkt. Rattle hat spürbare Probleme, ein elegant freches Momentum zu kreieren. Da ist zu viel Kapellmeisterei zu hören, zu viel überdrehte Emotion.
Der eröffnende Allegretto-Satz beginnt eigentlich vielversprechend. Einzelne Motive finden vor allem durch einen brillant aufgelegten Holzbläserblock (hervorzuheben sind vor allem die Klarinetten und Oboen) homogen zueinander. Rattle hält sein Orchester fest im Griff, treibt es immer wieder aufs Neue an. Da sind Anlaufbewegungen zu hören, die im Nichts enden, um anschließend von vorne zu beginnen. Ein rhythmischer Grundschlag ist gut zu spüren: stabil, impulsiv, mit Vorwärtsdrang – das erinnert teilweise beinahe ein wenig an Strawinsky.
Das Problem an diesem Abend ist, dass Rattle die Spannung nicht über die 30 Minuten Stückdauer halten kann. Alles mündet zunehmend in emotional mildere Gewässer. Der letzte Funken Esprit will nicht recht überspringen, Tempowechsel werden abrupt vollzogen. Und ob man das Finale gar so grell darbieten muss? Rattles Interpretation wirft ungewohnt viele Fragen auf: Die gewichtigste Frage aber bleibt diejenige, warum eine Interpretation eines Weltorchesters mit Weltdirigenten so wenig Emotion vermittelt.
Mit 19 Jahren schreibt kein Komponist ein perfektes Werk. Das hat Mozart nicht geschafft, das hat Bach nicht geschafft und das hat freilich auch Schostakowitsch nicht geschafft. Und genau das ist wohl das größte Problem an diesem Abend: Ein „unperfektes, jugendliches“ Werk muss vielleicht auch ein wenig unperfekt gespielt werden, um seine volle Authentizität entfalten zu können. Für einen Weltdirigenten wie Rattle und ein Orchester, das seit Jahren nach maximaler musikalischer Präzision strebt, scheint eine unperfekte Darbietung nahezu unmöglich geworden zu sein. Rattle nähert sich Schostakowitsch wie er es sonst bei Igor Strawinsky tut. Unglaublich exakt, wörtlich und zerpflückend. Ein Weg, der diesmal leider in einer Sackgasse endet.
Bei der 15. Sinfonie, Schostakowitschs letzter, ist alles anders: Schostakowitsch komponierte sie mit über 60 Jahren und hatte bereits einen lange andauernden, kompositorischen Reifeprozess erfahren. Diesmal zündet Rattles Interpretation – und wie! Mit unglaublicher Präzision gibt sich Rattle hier als Kapitän eines riesigen Kreuzfahrtschiffes. Seine Musiker folgen ihm auf Schritt und Tritt und steuern immer neue Ufer an: Einmal landen sie bei Rossini, ein anderes Mal bei Wagner. Schostakowitschs Zitateinbau bei seiner letzten Sinfonie ist hinreichend bekannt – aber wenigen gelingt es, sie so homogen zu verbinden wie Rattle an diesem Abend. Alles kommt aus einem Guss. Vom Fragmenthaften der 1. Sinfonie ist keine Spur mehr zu hören. Aus wiegenden Streicherwellen hebt sich ein Bläserungeheuer empor, das unglaublich majestätisch im donnernden Himmel wütet – ein Seedrache, der sich bedrohlich gen Publikum streckt, als wolle er vor dem baldigen Tode warnen. Schostakowitsch schrieb mit seiner 15. auch ein persönliches Abschiedswerk, ein Testament, als hätte er seinen nahenden Tod vorausgeahnt. Ein Abschied, den Rattle auf seiner Abschlusstournee spürbar nachempfinden kann: emotional und impulsiv.
Wie kann man sich von der großen Musikwelt würdevoller verabschieden als durch ein Konzertprogramm, das die beiden großen Randwerke eines großen Komponisten aufgreift, dessen Leben einen selbst jahrelang inspiriert hat? Simon Rattle hat sich an diesem Abend eindeutig bewusst für eine Schostakowitsch-Chronik entschieden. Vielleicht, weil er sich mit dessen Eigenschaften als Freigeist identifiziert, vielleicht, weil ihn dessen Musik emotional auf ganz besonderer Ebene packt.
Dimitri Schostakowitsch bei den Kompositionsarbeiten seiner 15. Sinfonie und Sir Simon Rattle im Abschiedsjahr als Chefdirigent bei den Berliner Philharmonikern: Das sind zwei Ausnahmekünstler, die sich an einer ähnlichen Station des Lebens befinden: Schostakowitsch musste als Freigeist im stalinistische Regime bestehen, Rattle als Grenzensprenger in der oft konservativen Musikwelt. Beide haben ihren ganz eigenen Lebensweg dabei stets bravourös und sich selbst treu bleibend gemeistert. Chapeau!
Raphael Eckardt, 29. August 2017, für
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