Foto: Nikolaifleet in Hamburg an der Deichstraße mit Elbphilharmonie im Hintergrund
Beatrice Rana und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Yannick Nézet-Séguin mit zwei großen Abenden in Hamburg und Frankfurt
Elbphilharmonie, Hamburg, 11. Mai 2022
Hans Abrahamsen (*1952) – Vers le silence (2021)
Clara Schumann (1819-1896) – Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 7 (1833-1835)
Johannes Brahms (1833-1897) – Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90 (1883)
Beatrice Rana, Klavier
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
Alte Oper, Frankfurt, 12. Mai 2022
Robert Schumann (1810-1856) – Konzert für Klavier und Orchester a-Moll op. 54 (1841; 1845)
Richard Strauss (1864-1949) – Ein Heldenleben op. 40. Tondichtung für großes Orchester (1897/98)
Beatrice Rana, Klavier
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
von Brian Cooper, Text und Fotos
Der Eine oder die Andere hatte ja geunkt, es werde auf Jahre hinaus keine Stücke in großer Besetzung auf der Bühne zu erleben geben, von (logistisch schon in normalen Zeiten anspruchsvollen) Orchestertourneen ganz zu schweigen. Und so ist es im Jahr Drei der Pandemie – denn das ist sie laut WHO noch immer, auch wenn die Masken zunehmend auch in geschlossenen Räumen fallen – schon ein mittleres Wunder, dass wir inzwischen wieder die bedeutenden Orchester auf ihren Reisen ein Stück des Weges begleiten dürfen.
So in diesem Fall geschehen am 11. Mai in der Elbphilharmonie und tags darauf in der Frankfurter Alten Oper. Es spielte jeweils das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit Beatrice Rana als Solistin und unter seinem Gastdirigenten Yannick Nézet-Séguin, der sich in Europa etwas rarer macht als noch vor einigen Jahren, da er als Chef gleich dreier Orchester auf dem nordamerikanischen Kontinent alle Hände voll zu tun hat.
Eine für Hamburg früh angekündigte Programmänderung brachte mit sich, dass nunmehr nicht Bruckners Dritte auf den Pulten lag, sondern jene von Johannes Brahms. Dies lag vermutlich an der Länge des neu hinzugekommenen, den Abend eröffnenden Werks von etwa einer halben Stunde, das der dänische Komponist Hans Abrahamsen während der Pandemie komponierte. Obgleich üppig besetzt, ist es eben tatsächlich die Stille, welcher in allen vier (klar als solche erkennbaren) Sätzen entgegengespielt wird. Der bei der Aufführung anwesende Abrahamsen erzeugt seine spannenden Klänge geradezu mathematisch präzise, und seine Musik verträgt durchaus mehrmaliges Hören. Dies ist auch glücklicherweise aufgrund eines sechs Monate zur Verfügung stehenden Streams möglich. Das für Ausführende wie für das Publikum fordernde Werk bietet eine lohnenswerte Hörerfahrung und wurde zu Recht mit weit mehr als nur höflichem Applaus bedacht.
Es folgte das leider allzu selten gespielte Klavierkonzert op. 7 von Clara Schumann, ein romantisches Jugendwerk im allerbesten Sinne, im Alter von etwa 14 komponiert, mit Anklängen unter anderem an Mendelssohn, dem ebenfalls im Jugendalter große Würfe gelangen (Stichwort Streichersinfonien). Wie das weit berühmtere Klavierkonzert ihres späteren Gatten Robert, das am Folgeabend erklang, steht das op. 7 von Clara Schumann in a-moll, und laut Beatrice Rana stammt die Idee, es ins Programm zu nehmen, vom Dirigenten des Abends. Sie spielte es mit absolut beseeltem Anschlag einerseits, totaler Kontrolle andererseits, mit Eleganz und auch mit erkennbarer Freude: In einer der Spielpausen hatte ich gar den Eindruck, sie erfreue sich einfach nur am kultivierten Klang des sie begleitenden Orchesters. Die Dialoge zwischen Solistin und Orchester gelangen wunderbar; absolut bemerkenswert hier war das lange Zwiegespräch zwischen Klavier und Solocello (fabelhaft: Giorgi Kharadze) in der Romanze. Wer da nicht an Brahms und dessen Zweites Klavierkonzert denkt…
Und eben die Dritte Sinfonie des Hamburger Großmeisters geriet zu einer wahren Sternstunde des Münchner Orchesters. Meine Begleiterin, Wahlhamburgerin und Elphi-erprobt, jedoch bisher nie mit sinfonischem Repertoire, hatte feuchte Augen. Eine meiner Definitionen eines guten Konzerts ist, dass man in sattsam bekannten Stücken Neues entdeckt. Das kann natürlich am herausragenden Saal liegen (den die Münchner bedauerlicherweise nicht haben, vielleicht sind sie ja deswegen so viel unterwegs – gut für uns!); meist liegt es jedoch natürlich an den Ausführenden selbst.
Nézet-Séguin ist ohnehin ein Dirigent, der einen bis in die letzte Reihe regelrecht anstecken kann (man verzeihe diese in Pandemiezeiten unglückliche Wortwahl), und lässt man sich darauf ein, geht man oftmals anders aus einem seiner Konzerte, als man hineingegangen ist. (Die Metapher wird nicht besser.)
Diese Dritte sprühte einfach nur vor Energie; es war eine Aufführung, an die man sich noch lange erinnern wird. Beispielhaft sei die Durchführung des ersten Satzes erwähnt: satte Streicher, wunderbar bassgrundiert, dazu die Holzbläser in absoluter Hochform. Ein regelrechtes Feuer wurde entfacht, die Musik lebte, es war Klangkultur in Reinform. Vor ziemlich genau sieben Jahren, am 27.5.2015, gab Nézet-Séguin im Konzerthaus Dortmund, damals mit dem Philadelphia Orchestra, ebenfalls eine Dritte für die Ewigkeit. Ganz nebenbei bewies der Dirigent in der vierhändigen Zugabe (Brahms, Walzer A-Dur, op. 39, Nr.15) sein außergewöhnliches Können als Pianist, und wer jemals Gelegenheit hat, einen kammermusikalischen Abend zu erleben, der unter dem Motto „Yannick and Friends“ steht, sollte sich das unter keinen Umständen entgehen lassen.
In der Stadt der Dichter und Bänker dann also spielte Beatrice Rana am Folgeabend das Robertsche Klavierkonzert op. 54. Auch hier perfekte Harmonie zwischen Solistin und Orchester, auch hier dialogische Stellen, die zum Hochgenuss gerieten. Beatrice Rana spielte zupackend, wo es nötig war, an anderen Stellen träumerisch-versunken. Yannick Nézet-Séguin ließ ihr alle nötigen agogischen Freiheiten, nie war ihr Spiel zugedeckt. Die Zugabe spielte Rana diesmal allein: ein Arrangement des Schwans (Le cygne) aus dem Karneval der Tiere von Camille Saint-Saëns.
Nach der Frankfurter Pause folgte Ein Heldenleben von Richard Strauss. Sinnlicher Farbenreichtum und eine klangliche Opulenz, die jedoch auch hier niemals in Intransparenz ausartete, zeichneten diese Darbietung der Tondichtung aus. Diese Aufführung war eine von vielen sehr guten, die man im Laufe der Zeit so gehört hat – vielleicht nicht für die Ewigkeit, aber doch eben richtig famos gespielt. Hervorzuheben sind hier das herausragende Blech sowie natürlich die ausgiebigen Soli des Konzertmeisters Anton Barakhovsky (im Programmheft namentlich genannt – gut so): phänomenal gespielt, mit Anklängen mitunter auch an Ysaÿe. Und insbesondere die Strauss’schen Eigenzitate gerieten zum schieren Vergnügen. Zum Ende hin verharrte das Publikum, die Musik verklang, es gab eine bemerkenswerte Stille. Vers le silence eben! Atmosphärisch auch das Drumherum: Das Konzert wurde live auf den Opernplatz übertragen, und hinterher gab’s ein Getränk aufs Haus. Sympathisch. In Frankfurt feiert man offenbar schon so allmählich den Saisonausklang. Wenn die wüssten…
Ein überraschendes Wiedersehen gab es an beiden Abenden mit einem Herrn, der seinerzeit den vermutlich schönsten Arbeitsplatz in ganz Amsterdam hatte, nämlich im Concertgebouw, direkt unter der Orgel: Marinus Komst, ehemals Solopaukist des Concertgebouworkest, war plötzlich im BRSO zu sehen. Was es damit wohl auf sich hatte?
Fazit: Das Reisen macht wieder sehr viel Freude, das BRSO ist in bestechender Form, und von der Solistin möchten wir bitte noch lange und sehr viel hören. Warum eigentlich nicht Brahms?
Dr. Brian Cooper, 13. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Bedingungslos in die Musik eintauchen klassik-begeistert.de, 6. Mai 2022
Antonín Dvořák, Rusalka, Hamburger Elbphilharmonie, 8. Mai 2022
Kyiv Symphony Orchestra, Luigi Gaggero Dirigent, Aleksey Semenenko, Elbphilharmonie, 1. Mai 2022