„Weh dem, der sich Menschen nähert“ – Dvořáks „Rusalka“ konzertant in der „Elphi“

Antonín Dvořák, Rusalka,  Hamburger Elbphilharmonie, 8. Mai 2022

Foto: Dvořák: Rusalka / Alan Gilbert / NDR Elbphilharmonie Orchester
Prager Philharmonischer Chor, © Daniel Dittus

Großer Saal der Hamburger Elbphilharmonie, 8. Mai 2022

Antonín Dvořák
Rusalka / Lyrisches Märchen in drei Akten op. 114

Konzertante Aufführung in tschechischer Sprache

NDR Elbphilharmonie Orchester
Alan Gilbert   Dirigent

von Dr. Andreas Ströbl

Im ersten Jahr des 20. Jahrhunderts entstand Dvořáks erfolgreichste Oper mit dem Untertitel „Lyrisches Märchen“. Tatsächlich ist die „Rusalka“ musikalisch und stofflich eine der letzten Opern des 19. Jahrhunderts, fernab vom knallharten verismo eines Puccini, dessen Politdrama „Tosca“ im Jahre 1900 auf die Bühne kam.

Das bedeutet allerdings nicht, dass diese Märchenoper der Härte entbehrte, ganz im Gegenteil. Es geht darin um bedingungslose Liebe bis zu Selbstaufgabe, Verrat, Intrige und Tod. Eigentlich ist es das Aufeinanderprallen zweier Welten und wer den romantischen Stoff heute rezipiert, könnte auf dessen Grundlage das Libretto einer sozialkritischen „clash-of-cultures“-Oper schreiben. Das Motiv vom Wassermädchen, das sich in einen Menschen verliebt, ist zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebhaft verarbeitet worden, wobei die Erzählung „Undine“ von Friedrich de la Motte-Fouqué aus dem Jahr 1811 wegbereitend war. Und so durchschwimmen die kalten Mädchen mit den traurigen grünen Augen Lyrik, Prosa, bald auch Drama und die Bildenden Künste, ob sie „Undine“, „Melusine“, „Lorelei“, „schöne Lau“ oder „Kleine Meerjungfrau“ heißen, und die Geschichten gehen regelmäßig unglücklich aus.

Hinter dem Gegensatz Kultur – Natur bei den Undinen-Verarbeitungen steht, soziopsychologisch betrachtet, eher der Konflikt zwischen Mann und Frau und das versetzt das Märchen gleichnishaft wieder auf eine reale Ebene. Das Thema der Erlösung der vermeintlich triebhafteren Frau durch das männlich-vernunftbegabte Prinzip ist in der Weiterführung ebenso Topos wie umgekehrt die Sehnsucht des Mannes, das eigene Unvermögen durch eine sich aufopfernde Frau auszugleichen. Wer jetzt an Wagner denkt, liegt völlig richtig.

© Daniel Dittus

Das Tragische für Rusalka – tatsächlich kein Eigenname, sondern ein Gattungsbegriff wie „Nixe“ – und den Prinzen ist, dass hier beide die Erlösung aus einem durch Sehnsucht verursachten Unglück suchen. Ihr Kuss bringt ihm schließlich den Tod, aber sie muss als Irrlicht durch die Dunkelheit flirren.

Diese Oper ist prädestiniert für bildmächtige, zauberische Inszenierungen. Wer nun angesichts der „nur“ konzertanten Aufführungen am 6. und 8. Mai im Großen Saal der Elbphilharmonie an eine karge Reduktion auf die Musik dachte, wurde auf das Großartigste überrascht. Diese „Rusalka“ bot in der Tat ein Gesamtkunstwerk und eindrucksvoller hätte man das kaum auf einer Opernbühne inszenieren können. Dazu trugen explizit alle Mitwirkenden mit Begeisterung bei und bescherten einem enthusiasmierten Publikum einen phantastischen Opernabend.

Bereits bei der Ouvertüre entwarf das Elbphilharmonie Orchester jenes vertraute Naturgemälde mit seinen böhmisch-volksliedhaften Anklängen und leichtfüßigen Polka-Themen, das immer wieder mit drohenden Untertönen und damit Verweisen auf Leid und Enttäuschung durchzogen ist. Diese Musik ist, bei allen Wagner-Reminiszenzen, völlig eigenständig und einfallsreich in ihrer schillernden Vielfalt. „Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte sich jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben“. Das sagte Brahms einmal voller Bewunderung über den tschechischen Kollegen.

Alan Gilbert leitete das große Orchester mit seiner bewährten ausgeglichenen Mischung aus engagierten, weitgreifenden Bewegungen und klaren Zurücknahmen. Tatsächlich bremste er mit der flachen Hand immer wieder die Dynamik und führte vom satten Brausen wieder zur heimeligen Innigkeit zurück. Die malte an der Harfe Annaëlle Tourret mit perlenden Kaskaden wie glitzernde Luftblasenreihen aus Rusalkas Wasserwelt. Die erste Hornistin Claudia Strenkert – um nur sie zu nennen, das gesamte Blech spielte makellos – sorgte für die dunkelgrüne Waldatmosphäre, in der sich Wild und Vögel tummeln; den Kuckuck hat Dvořák deutlich erkennbar rufen lassen.

© Daniel Dittus

Den Abend gestaltete visuell eine zauberhafte Lichtregie mit farbig beleuchteten Flächen, die Stimmungen und Emotionen unterstrichen, sowie unaufdringlichen aber wirkungsvollen Einfällen. Einer der schönsten war die Projektion des Vollmondes durch einen sanft strukturierten Strahler an die unebene Decke des Großen Saales. Den sang Rachel Willis-Sørensen mit anmutiger Inbrunst an und wer meinte, sich an dem berühmten „Lied an den Mond“ gerade im Norden der Republik durch die allsamstägliche Radio-Wiedergabe sattgehört zu haben, durfte diese sehnsüchtige Klage, gesungen von der amerikanischen Sopranistin, wie zum ersten Mal erleben.

Das war keine Opfer- oder Mädchen-Rusalka, sondern eine echte Frau mit starken Gefühlen, die sie kraftvoll und bestimmt äußerte. In den Fortissimi durchdrang sie jede Fuge des Saales. Das Wassergeschöpf empfindet sich ja selbst als leidenschaftslos, ist aber tatsächlich die einzige Figur der Oper, die zu echter, weil selbstverleugnender Liebe fähig ist – im Gegensatz zum Prinzen, der in einer Krankheitsvertretung vom koreanischen Tenor David Junghoon Kim gegeben wurde. Die ganze Bandbreite von spielerischer Verliebtheit über kalte Abweisung bis hin zur Resignation sang und spielte er mit Hingabe, auch in den Höhen sicher und stark.

Menschliche Kälte prägt auch die Rolle der Fremden Fürstin, die Ekaterina Gubanova mit gekonnter Verachtung gegenüber der ins gesellschaftliche Abseits geratenen Rusalka verkörperte. Sie sang mühelos gegen die Forte-Stellen des Orchesters an, was tatsächlich für alle Solistinnen und Solisten galt.

Wer den wunderbaren Bass Eric Owens zuletzt in der Met-Übertragung als ein bisschen zu leisen Philipp II. von Spanien in Verdis „Don Carlos“ gesehen hatte, mochte vielleicht befürchten, dass dieser baumstarke Amerikaner etwas von seiner ehemaligen Kraft verloren haben könnte. Als Wassermann in Hamburg hingegen hatte auch er kein Problem, sich gegen den Klangkörper durchzusetzen. Typisch für seine Stimme ist eine gewisse Rauheit in den Tiefen, die hervorragend zu der knorrigen, aber gutmütigen Vaterfigur passte.

Ebenfalls eher zugeneigt als abweisend war auch Michelle DeYoung als Hexe Ježibaba. Abgesehen davon, dass es hier naturgemäß keine angeklebte Hakennase oder einen Klischee-Buckel gab, erinnerte die amerikanische Mezzosopranistin mit ihrem glutvollen Timbre eher an eine Erda-artige Mahnerin denn an die drohende Zerrfigur, wie sie in manchen Inszenierungen erscheint. Zu ihrem Zauber gab es ein wunderschönes Lichtflacker-Spiel mit den Rundleuchten über den Rängen, das den ganzen Saal in eine magische Hexenhalle verwandelte.

Wiederum als Krankheitsvertretung übernahm Nicholas Mogg die Partie des Jägers mit seinem angenehm warmen Bariton; sein Zusammenspiel mit Anastasia Taratorkina als Küchenjunge brachte ein paar humoristische Aspekte ins Spiel. Auch diese Nebenrollen waren also mit Spitzenkräften besetzt, was desgleichen für die drei Elfen gilt. Catherina Witting, Luy de Butts und Anna-Maria Torkel waren charmante und zugleich freche Wassermädchen, absolut synchron in den gemeinsamen, mitunter sehr hohen Tönen und blitzschnell in den Übergaben.

Der Prager Philharmonische Chor überzeugte durch Exaktheit und kraftvollen Ausdruck; es war die einzig richtige Entscheidung, hier Muttersprachler, zumal auf höchstem Niveau, zu engagieren.

Die ganze Aufführung belebte die Verteilung sowohl des Chores und der Solisten auf wechselnde Positionen im gesamten Saal, was den Raum zu einem noch nie so wahrgenommenen Klangwunder machte. Selten hat man eine konzertante Opern-Aufführung so beweglich, spielerisch und lichtdurchdrungen erlebt.

Und so schafft solch eine Produktion tatsächlich, Geschichten zu erzählen, fernab jeglicher Statik. Dennoch hat man sich an vielen Stellen ganz auf die Musik konzentrieren können – ja, ein opulentes Bühnenbild hätte hier nur abgelenkt. Wieland Wagner meinte einmal auf die Frage nach der Aussagekraft seiner kargen Bühnenbilder, „Wozu brauche ich einen Baum auf der Bühne, wenn ich Astrid Varnay habe“. Weder eine traditionalistische noch eine moderne Ausstattung waren nötig, da man Rachel Willis-Sørensen hatte. Erzeugte ihr stummer Schrei wahrhaft Gänsehaut, so strahlte ihre letzte Geste zum Finale fast segnend und schicksalsergeben eine erhabene Ruhe aus.

© Daniel Dittus

Begeisterte Bravi-Rufe und bald stehende Ovationen würdigten diesen besonderen Opernabend, der offensichtlich aufgezeichnet wurde. Die CD erscheint hoffentlich umgehend, wenngleich die ausgezeichneten Licht- und Raum-Spiele tatsächlich nur in der „Elphi“ zu erleben waren.

Dr. Andreas Ströbl, 9. Mai 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

P.S.: Möglicherweise weist diese Oper doch hintergründig mehr über das
19. Jahrhundert und das Märchenhafte hinaus, denn die Kritik an den oberflächlichen und intriganten Menschen, die die Gewässer mit ihrem „Menschenschlamm“ trübe machen, geht in eine ähnliche Richtung wie die Klage der Rheintöchter in Wagners „Rheingold“, dass „falsch und feig ist, was dort oben sich freut“. Menschen sind meist unzuverlässig. Man sollte immer auf der Hut sein, zumal als ein Kind der Natur.

Rotterdams Philharmonisch Orkest, Yannick Nézet-Séguin Dirigent, Elbphilharmonie, 27. April 2022

L’Arpeggiata/Christina Pluhar, Elbphilharmonie, Großer Saal, 13. April 2022

Fromental Halévy, DIE JÜDIN, Opernhaus Kiel, Theater Kiel, 10. April 2022

 

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