Foto: Mussorgsky – Boris Godunov – Chaliapine as Boris Godunov – Metropolitan Opera Archives
Man kennt das “hohe C” mit dem jeder Tenor hofft, sein Publikum in den Bann zu ziehen. Dieser Beitrag befasst sich allerdings mit drei Interpreten verschiedener Stimmlagen (Sopran, Tenor, Bass), die das Opernpublikum begeistert haben nicht nur durch einen Ton, sondern durch ihr ganzes künstlerisches Schaffen, und damit die Opernwelt maßgeblich verändert haben. Ihre Namen beginnen alle mit “C”. Zufall? Aber was vereint diese drei Künstler außer dem Anfangsbuchstaben ihrer Namen?
Teil 2: Fjodor Chaliapine (1873-1938)
von Jean-Nico Schambourg
Am 16. März 1901 trat Enrico Caruso erstmals zusammen mit dem russischen Bass Fjodor Chaliapine an der Mailänder Scala auf, unter der Leitung des Stardirigenten Arturo Toscanini, in der Oper “Mefistofele” von Arrigo Boito.
Chaliapines schauspielerisches Auftreten war eine Revolution im Operntheater. Sein Ziel war die “dramatische Wahrheit”, wie er es nannte, nicht unbedingt die musikalische Linie. Zu diesem Zweck verbog er manche Noten um die Bedeutung der Worte und die dazu gehörenden Gefühle besser auszudrücken. Der Stardirigernt Arturo Toscanini, bekannt für sein unerbittliches Festhalten an der Partitur, gewährte ihm gewisse Freiheiten in ihren gemeinsamen Auftritten von Boitos “Mefistofele”. Toscanini begriff, dass Chaliapine nicht eigensinnig handelte, sondern sich diese Interpretation des Teufels reiflich überlegt hatte.
Weltberühmt war Chaliapine vor allem durch seine unvergleichliche Darstellung des Titelhelden der Oper „Boris Godunov“ von Modest Mussorgsky. In russischen Opern ist seine Tendenz sich die Noten zurechtzulegen nicht so stark ausgeprägt, oder fällt uns westlichen Hörern nicht so schnell auf.
Im französischen Fach war und ist dieses “Verbiegen” der Partitur noch mehr verpönt als im italienischen Repertoire, vor allem heute, wo das strikte Einhalten der Noten oft zu einem langweiligen, emotionslosen Vortrag führt. Hier setzte Chaliapine vor allem Massstäbe als Méphisto im “Faust” von Gounod und als Don Quichotte in der gleichnamigen Oper von Jules Massenet, deren Weltpremiere er 1910 in Monte-Carlo sang.
Für mich zählt die Interpretation von Chaliapine als Don Quichotte im gleichnamigem Film von Georg Wilhelm Pabst aus dem Jahre 1933 zu den besten Beispielen eines singenden Darstellers, beziehungsweise eines schauspielernden Sängers. Der Film wurde in drei Versionen gedreht: in Französisch, Englisch und Deutsch. Letztere gilt als verschollen.
Die Musik zum Film schrieb der französische Komponist Jacques Ibert, der sie Chaliapine auch widmete. Die vier Melodien des Don Quichotte wurden zu einem Lied-Zyklus (Chansons de Don Quichotte) zusammengefasst, auch in einer Version für Gesang und Klavier.
Don Quichotte ist eine Figur die zwischen Extremen hin und her schwankt: zwischen Verrücktheit und Genialität, zwischen (Über-)Mut und Sentimentalität. Und das weiß niemand besser zu gestalten als Chaliapine, der zu diesem Zeitpunkt schon 60 war: jede musikalische “Geste” entspricht genau der szenische Geste die er spielt.
Im ersten Lied “Chanson du départ” (Lied des Abschieds) besingt Don Quichotte ein fiktives Schloss, der Tugend gewidmet, wo nur Ritter zugelassen sind, die siegreich, ehrbar und verliebt sind. Dabei steht er im Film von Pabst vor einem einfachen Stall mit Kühen und armen Bauern. Mit seinen Blicken allein drückt Chaliapin schon die geistige Verwirrtheit des Ritters aus, der einer inneren Ekstase verfällt. Und sein Gesang folgt dieser Interpretation, indem er die Gesanglinie immer wieder unterbricht, um den Text hervorzuheben (im Film bei Minute 23:50).
Im zweiten Lied an Dulcinée (“Chanson à Dulcinée”) gibt Chaliapine seiner Stimme eine melancholische Farbe, um zu zeigen, wie groß das Verlangen von Don Quichotte nach einem Wiedersehen mit seiner geliebten Dulcinée ist. Typisch für Chaliapine auch hier, wie er im Moderato-Teil der Melodie auf Legato-Singen verzichtet und den poetischen Text immer wieder deklamatorisch vorträgt (im Film bei Minute 36:50).
Im dritten Lied “Chanson du Duc” (Lied des Herzogs), wo Don Quichotte seine Ausgewählte besingt, zeigt alleine schon die Körperhaltung von Chaliapine den Stolz des Ritters, für diese Schönheit zu kämpfen, ihr sein Leben zu widmen. Seine Stimme klingt klangvoll und fest, um dieses auch musikalisch umzusetzen (im Film bei Minute 56:50).
Und wen rührt nicht die Sterbeszene mit dem vielleicht schönsten Lied des Zyklus (“Chanson de la mort de Don Quichotte” – Lied des Todes von Don Quichotte), das der Ritter von der traurigen Gestalt aus einer anderen Welt an seinen Sancho Panza richtet? Chaliapine (er)findet auch hier die perfekte Stimme, um die Worte von Don Quichotte musikalisch zu beleben: zuerst seinem geliebten Sancho Trost und Hoffnung spendend, dann aber sterbend in Verzweiflung über die verbrannten Bücher, die auch ihn getötet haben. Und dann dieser überirdische Schlusston im Falsetto! Wie ein letzter Hauch! Einfach grandios! (im Film bei Minute 1:18:20).
Anhand dieser Aufnahme verstehe ich, dass Chaliapine der Oper eine vorher nicht dagewesene, moderne, dramatische Dimension gab, die dann von Maria Callas weitergebracht wurde. Sie hat die Anforderungen des Gesangs endgültig mit denen des Theaters in Einklang gebracht. Wie sie dies tat, sehen wir im Teil 3 dieses Beitrags.
Jean-Nico Schambourg, 23. Oktober 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
* Für sein Leben in der westlichen Welt benutze Chaliapine selbst die französische Schreibweise seines Namens. Zum Zweck diese Artikels behalte ich diese Schreibweise bei.
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Jean-Nico Schambourg, Jahrgang 1959. Gehört einer weltlichen Minderheit an: Er ist waschechter Luxemburger! Und als solcher war es normal, Finanzwirtschaft zu studieren. Begann seine berufliche Karriere bei der Kriminalpolizei, ehe er zur Staatsbank und Staatssparkasse Luxemburg wechselte. Seit jeher interessiert ihn jede Art von Musik, aber Oper wurde seine große Liebe. Er bereist ganz Europa, um sich bekannte und unbekannte Opern und Operetten anzuhören. Nebenbei sammelt der leidenschaftliche Hobbykoch fleißig Schallplatten über klassischen Gesang (momentan ungefähr 25.000 Stück). Sang in führenden Chören in Luxemburg, verfolgt seit einigen Jahren aber ausschließlich eine Solokarriere als Bass. Sein Repertoire umfasst Lieder und Arien in zwölfSprachen. Unter der Bezeichnung “Schammilux Productions” organisiert er selbst jährlich zwei bis drei Konzerte. Perfektionierte sein Singen in Meisterkursen mit Barbara Frittoli, Jennifer Larmore sowie Ramón Vargas, organisiert von “Sequenda Luxembourg”, einer Organisation zur Förderung junger Sängertalente, geleitet von seiner Gesangslehrerin Luisa Mauro. Neu auf klassik-begeistert.de: Schammis Klassikwelt, alle zwei Wochen.
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