Schammis Klassikwelt 8: “Wohin, wohin? Wohin seid ihr entschwunden?” Teil 1: Iwan Semjonowitsch Koslowski

Schammis Klassikwelt 8: “Wohin, wohin? Wohin seid ihr entschwunden?” Teil 1: Iwan Semjonowitsch Koslowski

Foto: Iwan S. Koslowski und Sergei J. Lemeschew, “befreundete Rivalen” des Bolschoi Theater Moskau

Das Bolschoi Theater in Moskau verfügte seit Ende der Zwanziger, und dies während mehr als dreißig Jahren, über zwei lyrische Tenöre, die zum absoluten Olymp des Gesangs gehören: Iwan Semjonowitsch Koslowski und Sergei Jakowlewitsch Lemeschew. Ihre Stimmen haben dieses für russische Tenöre typisch silberne Timber, ganz in der Tradition ihrer berühmten Vorgänger Dmitri A. Smirnow und Leonid W. Sobinow. Die beiden “befreundeten Rivalen” teilten sich am Bolschoi Theater nicht nur viele Rollen, sondern auch die Gunst des Publikums, besonders des weiblichen. Dieses war in zwei Lager gespalten: die “Koslowistinnen” und die “Lemeschistinnen”.

 von Jean-Nico Schambourg

 Iwan Semjonowitsch Koslowski – Teil 1

Iwan S. Kozlowski wurde 1900 in der Ukraine im Dorfe Marjanowka bei Kiew geboren. Seine musikalische Ausbildung erhielt er am Konservatorium von Kiew bei dem ukrainischen Komponisten Mykola W. Lyssenko und dessen Frau Elena Murjawowa. Nach seinem Operndebüt 1922 in Poltawa als Faust in Gounods Oper, kam er über die Theater in Charkow und Swerdlowsk 1926 an das Bolschoi Theater in Moskau, dem er dann mehr als 30 Jahre lang als führender Tenor angehörte. Ende der dreißiger Jahre gründete Koslowski eine eigene Operntruppe, wo er sich nicht nur als Sänger, sondern auch als Regisseur betätigte. Der Ausbruch des zweiten Weltkriegs ließ dieses Unternehmen nach wenigen Jahren jedoch scheitern. 1940 wurde er zum “Volkskünstler der Russischen Föderation” ernannt. Bis Anfang der siebziger Jahre gab er regelmäßig Konzerte. Seinen letzten Auftritt hatte er 1989. Zwischen 1956 und 1980 lehrte er am Konservatorium in Moskau. Er verstarb 1993 in Moskau.

Die Stimme von Ivan Koslowski wird man vielleicht beim ersten Hören nicht unbedingt als schön empfinden, aber man ist sofort gefesselt von der Intensität und Wärme, die sie ausstrahlt. Sie ist weich und zart, auch wenn Koslowski ihr einen schneidenden Charakter geben konnte durch die Intensität seines Singens und besonders durch die Präzision seiner einzigartigen Diktion. Sein Singen ist geprägt von einer verführerischen messa di voce und heldisch auftrumpfenden Fortissimi.

Koslowski fühlte sich mehr als nur als ein Sänger, er war Interpret, Schauspieler. Für seine Interpretationen war die Wortdeutlichkeit eine der führenden Prämissen. Ganz im Stile des großen russischen Basses Fjodor Schaljapin, erlaubte sich auch Koslowski die Partitur verschiedentlich nach seinem eigenen Interpretationswillen zu Recht zu biegen, sei es durch Abänderung einzelner Notenwerte oder sogar der ganzen Gesangslinie.

Koslowski war sowohl im russischen als auch im westlichen Opernrepertoire zu Hause. Berühmt waren sein Lensky in “Eugen Onegin” von Tschaikowski, Bayan in “Ruslan und Ljudmila” von Glinka, Berenday in “Snegourotchka”, der indische Gast in “Sadko”, Levko in “Die Mainacht”, alle drei Opern von Rimsky-Korsakov, Dubrovsky in der gleichnamigen Oper von Naprawnik.

 Besonders hervorzuheben ist seine Gestaltung der Rolle des “Gottesnarren” oder “Schwachsinnigen” in der Oper “Boris Godunow” von Modest Mussorgski. “Fließet, fließet, ihr bitteren Tränen! (…) Weh, weh dir Russland, weine, weine, russisches Volk, hungriges Volk!” Dies sind die Worte des Gottesnarren, mit denen er den Zaren des Mordes am Zarewitsch anklagt. Die Rolle war seit jeher eigentlich eine kleine tenorale Nebenrolle. Durch seine Interpretation hat Iwan Koslowski sie zu einer zentralen Figur in dieser von tiefen Stimmen dominierten Oper gemacht. In den wenigen Zeilen, die der Narr singt, gelingt es Koslowski, mit einer bleichen, der Welt entrückten Stimme, sich in die Ohren und in das Herz des Zuhörers zu verewigen.

Koslowski war auch ein außergewöhnlicher Interpret westlicher Opernrollen: Faust und Roméo, (Gounod), Werther, Duca, Almaviva, Lohengrin, Orpheus, Alfredo und viele andere sang er mit großem Erfolg. Das Anhören auf Schallplatte dieser Werke in russischer Sprache stört mich keineswegs, da Koslowski diese Rollen mit einer großen Subtilität singt, so dass man jede Phrase der Oper verfolgen kann, trotz der fremdklingenden Sprache. Nicht zu verschweigen ist allerdings, dass verschiedene Kritiker ihm, in diesem Fach, öfters einen übertriebenen Manierismus vorwerfen und seine Aufführung als “veraltet” betrachten, da er sich mit seinen Interpretationen eher am Stil des Belcanto als an demjenigen von Enrico Caruso orientiert.

Er war zweifellos ein bedeutender Lied- und Konzertsänger. Neben den Liedern der gängigen russischen Komponisten wie Tschaikowski, Rachmaninoff, Rimsky-Korsakov, Mussorgski, Dargomyschski, Medtner, Glinka, Taneyev usw, zählten auch unzählige Werke westlicher Komponisten zu seinem Repertoire, so zum Beispiel von Bach, Beethoven (An die ferne Geliebte), Britten, Chausson (Poèmes de l’amour et de la mer), Liszt, Schubert und Schumann (Dichterliebe). Koslowski sang diese Werke alle in russischer Sprache.

Sein über 300 Lieder umfassendes Repertoire beinhaltete auch viele russische und ukrainische Volkslieder. Letztere lagen ihm ganz besonders am Herzen, wie im Allgemeinen die Musik seiner Heimat, der Ukraine, für die er sich sehr einsetzte. So sang er in den Opern “Katherina” von Mykola Arkas, “Natalka-Poltavka” von Mykola Lyssenko und “Der Saporoger an der Donau” von Semen Hulak-Artemowskyj.

 

Er genoss seine Berühmtheit als Star und fühlte sich auch als solch einer. Er war ja schließlich der Lieblingssänger von Stalin. Deshalb verdross es ihn auch sehr, dass man seinen Status nicht immer respektierte und dass man ihm das Reisen ins Ausland verbot. Dies auch zum Leidwesen des westlichen Publikums, das nie in den Genuss kam, diesen einzigartigen Künstler live zu erleben. Auf vielen Schallplatten wurde aber, Gott sei Dank, seine Kunst festgehalten und auch auf Internet findet man heute manche Aufnahmen von ihm.

 Jean-Nico Schambourg, 22. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schammis Klassikwelt (c) erscheint regelmäßig am Sonntag.

                                                                                                         

Jean-Nico SchambourgJahrgang 1959. Gehört einer weltlichen Minderheit an: Er ist waschechter Luxemburger! Und als solcher war es normal, Finanzwirtschaft zu studieren. Begann seine berufliche Karriere bei der Kriminalpolizei, ehe er zur Staatsbank und Staatssparkasse Luxemburg wechselte. Seit jeher interessiert ihn jede Art von Musik, aber Oper wurde seine große Liebe. Er bereist ganz Europa, um sich bekannte und unbekannte Opern und Operetten anzuhören. Nebenbei sammelt der leidenschaftliche Hobbykoch fleißig Schallplatten über klassischen Gesang (momentan ungefähr 25.000 Stück). Sang in führenden Chören in Luxemburg, verfolgt seit einigen Jahren aber ausschließlich eine Solokarriere als Bass. Sein Repertoire umfasst Lieder und Arien in zwölfSprachen. Unter der Bezeichnung “Schammilux Productions” organisiert er selbst jährlich zwei bis drei Konzerte. Perfektionierte sein Singen in Meisterkursen mit Barbara Frittoli, Jennifer Larmore sowie Ramón Vargas, organisiert von “Sequenda Luxembourg”, einer Organisation zur Förderung junger Sängertalente, geleitet von seiner Gesangslehrerin Luisa Mauro. Neu auf klassik-begeistert.de: Schammis Klassikwelt, regelmäßig am Sonntag.

Teil 2 erscheint am Sonntag, 5. Februar 2023 auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schammis Klassikwelt 6: Stimmliche Eleganz oder vokaler Sexappeal? klassik-begeistert.de

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