Auszug „Dialogues des Carmélites“ 28. Januar 2024
Er ist weiblich. Nicht leicht auszusprechen, etwas fremd klingend. Zu ihm gehört eine nicht alltägliche Rolle in einer selten gespielten Oper. Werden wir geistig parallel eine andere Stimme ungewollt mithören, die sich uns in dieser Rolle wundervoll eingeprägt hat?
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Für uns ist es ihre erste Partie, mit der sie noch gänzlich identifiziert ist, ohne Herausforderungen andrer Rollen. Sollen wir über Internet ihren bisherigen Lebenslauf in Erfahrung bringen? Würde dies nützen oder gar zu sehr beeinflussen? Wir lesen, haben aber durch andere Informationen bald wieder das Beschriebene vergessen. Sie tritt auf.
Die Rolle braucht aus unsrer Erfahrung Temperament. Sie ist lebhaft, schwungvoll – und sie ist impulsiv, angeregt. Wir spüren in ihrer Stimme Erregung, nervöse Impulse und das geht mit den Gedanken, die sie äußert, eine bis jetzt noch nie gehörte innere Zusammengehörigkeit ein.
Mère Marie und Madame Lidoine wachsen im Laufe des Abends an Bedeutung und sind beide exzellent besetzt. An Ersterer (in der vorigen Spielzeit doch bereits viermal Werthers Charlotte!) sind wir persönlich an einem Wiederhören besonders interessiert.
Er war als Charaktertenor eine Institution. Sein Frantz, Diener in einem der Gesangskunst verschriebenen Haus, wo er sich selbst mit immer dünner werdenden Stimme darin versucht. Sein skurriler Souffleur mit dem passenden Namen Monsieur Taupe, der erst gegen Ende von „Capriccio“ seinen einzigen, nicht sehr langen Auftritt hat. Oder sein Pedrillo, wo man auf die leichten Schwierigkeiten in der Höhe wartete, als wären sie schon in der Partitur vermerkt. Nur der Mime fehlte uns noch.
Aber prompt beim ersten „Rheingold“ stand da der Name: Gerhard Stolze. Dieser Sänger feierte eineinhalb Jahre zuvor im Redoutensaal der Wiener Hofburg in Werner Egks „Der Revisor“ nach der Komödie von Nicolai Gogol seinen Einstand an der Wiener Staatsoper. Viele interessante Aufführungen, darunter zeitgenössische Werke von Carl Orff und Gottfried von Einem, sind in dauerhafter Erinnerung geblieben. Mit 52 Jahren im Jahr 1979 einem Schlaganfall erlegen, ist seine Biografie eine bewegte Berg- und Talfahrt. Einiges in ihr bleibt rätselhaft und steht im Gegensatz zu dem zu seinen Lebzeiten selbst Gehörten und Gelesenen.
An den ersten sechs Abenden der Neuinszenierung von „Werther“ hatte die Titelpartie José Carreras gesungen, ein Publikumsliebling, der in den vergangenen zehn Jahren einhundertundzweimal in sechzehn Opern in diesem Haus begeisterte. In der zehnten Aufführung war Neil Shicoff angesagt, der im Vormonat fünfmal als Rodolfo sein Hausdebüt gab, wenn man von einem einzigen Herzog von Mantua neun Jahre davor absieht.
Der Saal, die Logen und die Ränge waren halbvoll, gefühlt halbleer. Ein trauriges Rollendebüt. Als erster „Werther“ ohne Vergleiche ziehen zu können, beeindruckte dieser Unglückliche. Und dann die Überraschung, als der prominente Musikkritiker Karl Löbl in seiner nächsten Fernsehsendung gerade diesen Abend ausgewählt hatte, um den „neuen Werther“ vorzustellen, der bald zu unser beider Lieblingstenor wurde: Captain Vere (Billy Bud), Lenski (Eugen Onegin), Peter Grimes, Roméo (Roméo et Juliette), Cavaradossi (Tosca).
Dass in Landes- und Stadttheatern in der Regel bekannte Namen selten zu finden sind, ist verständlich. Als die norwegische Altistin Anne Gjevang am Tiroler Landestheater als Carmen gastierte, stand noch in den Sternen, dass etwa vier Jahre darauf ihr Bayreuther Erfolg als Erda dazu führte, dass tout le monde sie als Erda hören wollte.
Um dieser Festlegung zu entgehen, schloss sie Verträge als Fricka, Waltraute und Brangäne ab. Ihr erstes öffentliches Auftreten war übrigens am Stadttheater Klagenfurt als Baba the Turk in Strawinskys „The Rake’s Progress“.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 2. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“