Schweitzers Klassikwelt 115: Auf welche Weise wir unsre Kritiken im Nachhinein kritisch betrachten

Schweitzers Klassikwelt 115: Auf welche Weise wir unsre Kritiken im Nachhinein kritisch betrachten  klassik-begeistert.de, 28. mai 2024

Titelbild:  Eigene Kritik. Andere Rezensentin

Ein (Opern)Erlebnis ist zu einem erkennenden und denkenden Ich gehörend, geht also von einem Un-Teilbaren (In-Dividuum) aus, das sich aber in der Absicht eines Berichts mit-teilen will. Es lässt sich dabei nicht vermeiden, dass die Eindrücke auch von persönlichen Gefühlen bestimmt werden, was bei der Lektüre nicht ganz ohne Interesse ist, aber das aufwendige Lesen mehrerer Essays empfiehlt.

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Das ist von ein und demselben Abend, wenn es sich nicht um eine Premiere oder Wiederaufnahme handelt, meistens nicht realisierbar. Der Dichter, Komponist und Sänger Leonard Cohen (siehe Schweitzers Klassikwelt 26) empfand jeden gelungenen Abend als Glück und Gnade. Trotz bestens zusammengeschweißtem Team könnte ein Abend auch stimmungslos missglücken.

Wir hatten eine Zeit anscheinend Schwierigkeiten mit Baritonen. Ein Sänger, den wir in Massenet-Opern sehr schätzten, enttäuschte ein, zwei Jahre darauf, als Rigoletto. Ebenso ging es uns mit einem gefeierten Bariton des Monteverdi’schen „L’Orfeo“. Erst mit seiner Klage konnten wir mitempfinden. Da beruhigte uns die Rezension einer Kollegin wenige Monate später. Sie lobte zwar allgemein seine Wortdeutlichkeit, seinen Farbenreichtum und seine kraftvolle Stimme, um im nächsten Satz nahezu einschränkend „besonders im zweiten Teil“ hinzuzufügen, „in dem er den Klagen und dem Schmerz über seinen Verlust große Emotionen verlieh“.

Nicht umsonst haben wir uns Sorgen um eine lyrische Sopranistin gemacht, die nach viel Lob auf den Kulturseiten endlich den Weg auf die Bühne der Wiener Staatsoper gefunden hat. Wir hörten einen wunderschönen Sopran, aber war der Sprung ins dramatische Fach mit der Donna Anna nicht zu früh?  Zweieinhalb Jahre später hinterließ sie in der gleichen Partie bei einem Kollegen ebenfalls einen zwiespältigen Eindruck, kamen doch einige ihrer Töne etwas scharf hinüber. Zwei Abende später gefiel am schlanken Sopran die dramatische Neigung und Färbung. Aber es wird zurückgerudert, mehr Stimmkontrolle in den extrovertierten Stellen wäre vorteilhaft gewesen. Über ihre Pamina im selben Monat lesen wir, dass die besagte Sängerin mit ihrer schönen (!) Stimme oft zu kontrastiert singt, die forte-Stellen akzentuierend und die piano-Stellen übertreibend.

Gerade die unangenehme Aufgabe des Konsuls, die ahnungslose Japanerin mit der bitteren Wahrheit vertraut zu machen, wurde für uns in einem Opernfilm zu einem nachhaltigen Erlebnis und so sind wir seither immer wieder auf die Darstellung dieser Szene gespannt. Deshalb gehört unsrer Meinung nach der Sharpless von ersten Kräften des Hauses und mit einer dementsprechenden Ausstrahlung verkörpert. Mit dieser Ansicht stehen wir nicht allein, wenn wir über eine Aufführung an der Staatsoper Stuttgart vielleicht zu übertrieben bestätigt bekommen: „Der Konsul Sharpless, der trotz weniger einprägsamer melodischer Äußerungen die eigentliche männliche Hauptrolle…“

Ein Kritiker schrieb offen, es sei nicht ersichtlich, warum ein Sänger ohne heldische Stimme nur für den Tambourmajor für acht Vorstellungen an die Wiener Staatsoper berufen wurde. Auch wir bemerkten, dass wir bis dahin in dieser Partie nur Erfahrungen mit Tenören hatten, die zumindest den Pedro aus „Tiefland“ in ihrem Repertoire nachweisen konnten. „Die Wirkung auf Marie blieb nicht nachvollziehbar.“ Zur Ehrenrettung des Sängers erwähnten wir seine Einstudierungen seltenerer Opernpartien wie den Gandhi in „Satyagraha“ von Philip Glass.

Man spricht von Rollendebüts und von Hausdebüts. Wir verwenden das Wort Debüt auch im Fall unsrer Erstbegegnung mit einer Künstlerin, einem Künstler. Die neue Marietta und Erscheinung Maries war im Jänner 2017 ein großartiger Eindruck. Zugute kam der Interpretin, dass sie eine Strauss-Sängerin war und auch mit Wagner Erfahrungen besaß, denn „filmmusikalische“ Anklänge an beide Komponisten findet man in dieser Korngold-Oper so manche. Warum aber so spät unsre erste Begegnung mit der Sopranistin? Grund dafür waren für uns zu wenig emphatische Reaktionen über ihre Salome: „… erfüllt die Anforderungen in einem hohen Maß…“ (2013), „… gelingt es von Mal zu Mal besser…“ (2013), „… gerät an ihre stimmlichen Grenzen und weicht geschickt des Öfteren in eine Art Sprechgesang aus.“ (2016). Ganz anders liest sich gegen Ende des Jahrs 2023 ein Bericht über eine Zürcher „Götterdämmerung“: „… zählt nicht erst seit gestern zu den führenden lyrisch-dramatischen Sopranistinnen unsrer Zeit. Nicht nur die Schönheit und ganz natürlich erscheinende Kraft ihrer nunmehr ins ganz große Sopranfach hineingewachsenen Stimme…“

Opernhaus Zürich © Thomas Wolf

Am Ersten des Monats: „In der Tiefe mangelte es nicht an Volumen – so ist das lang gehaltene F, mit dem das Duett Sparafuciles mit Rigoletto endet, sehr eindrucksvoll.“ Drei Abende später lesen wir es anders: „Beim Sparafucile blieben viele Wünsche offen. In der Basslage fehlte seinem Bassbariton die nötige Eindringlichkeit.“ Auch wir vermissten im Frühjahr davor einen bühnenreifen Oktavsprung auf das tiefe F. Im italienischen Originaltext ist es allerdings sehr unglücklich, den tiefen Ton bei der Namensvorstellung auf einem i aufbauen zu müssen. „Sparafucil, Sparafucil.“ In der deutschen Übersetzung tat sich ein Gottlob Frick leichter: „Sparafucil, merk es dir wohl.“

Ist der Charakter des Chevaliers Des Grieux bei Massenet so verschieden von Puccinis Chevalier? In Kloibers Handbuch der Oper ist der Chevalier in „Manon“ als lyrischer Tenor deklariert. Für uns war der in „Manon“ eingesetzte Tenor zu dramatisch und wir sehnten uns nach einem Sänger, der damals auf jugendliche Rollen wie Lysander (A Midsummer Night’s Dream), Andres (Wozzeck) und Sohn Noboru (Das verratene Meer) spezialisiert war.

Nach dem Roman von Antoine-François Prévost befindet sich das unglückliche Paar bei ihrer ersten schicksalhaften  Begegnung noch im Teenageralter. Wäre für Puccinis „abenteuerlustigen Studenten eine markantere Stimme“ (wörtliches Zitat des Rezensenten) als die unseres jetzt aufgebotenen Traumkandidaten wirklich notwendig gewesen? Mit dem selben Rezensenten gingen wir bei einem anderen Sänger, einem Bariton, auch nicht konform. Er kritisierte beim Schaunard im Ersten Bild eine schlechte Vernehmbarkeit und lobte am Beginn des Vierten Bilds in der ungestümen Szene die kernige, verwandelte Stimme.

Wir wiederum erkannten in seinem Brétigny („Manon“ von Jules Massenet) rein stimmlich einen Vertreter der Oberschicht cum nobilitate. Ausführlicher haben wir unsere Beobachtung nach einem „Fidelio“ dargelegt: „Wir schätzten die auffallend dezente Vortragsweise, die dem Minister eine besonders noble Haltung verlieh. In der Rolle des Fernando haben wir schon Sänger gehört, die glaubten diese kleinere Partie mit mehr Nachdruck anlegen zu müssen.“

Ist in „Pique Dame“ Graf Tomski oder Fürst Jeletzki die begehrenswertere Baritonpartie?  „Als Du zum Gatten mich erkoren“, zuletzt von einem Landsmann Tschaikowskis mit noblem Kavaliersbariton gesungen, hinterließ nicht das drängende Bedürfnis im Gegensatz zu Juri Masurok anlässlich eines Bolschoi-Gastspiels diesen Sänger in weiteren markanten Partien (so geschehen bei Masurok mit dem Scarpia) näher kennen zu lernen. Das war, wie wir entdeckten, ein grober Fehler! Bei der Nachlese bedauerten wir die „wundervollen Lichtblicke, einen mitfühlenden Sharpless, dem merklich das Herz zu brechen schien,“ versäumt zu haben. Und ein zweiter Augen- und Ohrenzeuge schrieb: „Wie der Sänger mit der Frage an Cio-Cio-San, was sie machen würde, wenn Pinkerton nicht zurückkäme, den Stimmungswechsel einleitete, war grandios.“ Vielleicht spielte bei der „Pique Dame“ das Gefälle zwischen Gesanglichem und Darstellerischem eine Rolle. Als Repräsentant des Hochadels besaß der Bariton keine selbstbewusste Ausstrahlung.

Theater Basel, das größte Dreispartenhaus Europas, 20. und 22. November 2012: Die Oper „Der Sandmann“, Musik: Andrea Lorenzo Scartazzini, Textdichtung im wahrsten Sinn des Wortes: Thomas Jonigk beginnt mit einer Traumerzählung, vom Orchester und später von einem unsichtbaren Frauenchor mittels Zischlauten vorgetragen. Darauf folgt ein langgezogener Schrei des Nathanael. Auf diese erste unartikulierte Stimmäußerung des Solisten warteten wir neugierig, denn diese lässt bereits Rückschlüsse auf die Stimmbeherrschung zu. Der US-amerikanische Bassbariton bestand in unsren Ohren diese Vorprüfung vorzüglich. Der fast ständig präsente Bassbariton gefiel uns in allen Lagen.

Theater Basel  © Lothar Schweitzer

Dreidreiviertel Jahre später lesen wir über seinen Amfortas zu den Bayreuther Festspielen von einem dunklen Bariton, dem eine Spur Weichheit fehlte. „Opernglas“ schwärmt im Frühjahr zwei Jahre danach von seinem samtenen Bassbariton in der Rolle des Mandryka in der Oper Wiesbaden, vermisst jedoch etwas an Kern und Kontur. Und den zweiten Sommer darauf, wiederum in Bayreuth, ist „Klassik-begeistert“ begeistert von der heldenbaritonalen Christusgestalt des Amfortas voll wunderbaren satten Schmelzes. Für eine Wiederbegegnung müssten wir nach Chicago oder zur Houston Grand Opera fliegen.

Houston Grand Opera © Steve Emahiser

Salzburger Festspiele 2014, „Der Rosenkavalier“ mit anachronistischem Schönbrunner Palmenhaus bei der Überreichung der silbernen Rose.

Sophie Koch als Octavian © Salzburger Festspiele / Monika Rittershaus

Der „vorstädtische Unterkommissarius“, nach andrer Lesart „Vorstands-Unterkommissarius“ (engl. board commissioner) lässt im dritten Akt aufhorchen. Wir konnten aber bei dieser Partie nicht nachprüfen, ob der Interpret auch zu leisen Tönen fähig ist. Bayreuther Festspiele 2023: Ein in Sachen Richard Wagner vielgereister Wagner-Experte empfiehlt den „Titurel“ für höhere Aufgaben.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 28. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt 26: Leonard Cohen – Ein Leben in Gesprächen

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