Bild: Karfreitagszauber Bühnenbild: Joseph Urban
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Die Sammlung von Vivaldis vier Violinkonzerten ist ein sehr beliebtes Werk der Gattung Programmmusik. Inwieweit spielen die Jahreszeiten für uns Opernliebhaber im Musiktheater eine Rolle? Spontan fallen uns die Winterstürme, die dem Wonnemond weichen, und der so mild, so stark und voll duftende Flieder, der weich die Glieder löst, aus Wagners berühmten Werken ein. Erst nachher denken wir an Brittens „Sommernachtstraum“ mit seiner sagenumwobenen Waldstimmung. Musik und Melodie gehen halt vor einen zusammenfassenden Operntitel.
Kehren wir zu Richard Wagner und zu „Parsifal“ zurück. Von den in die Irre leitenden Blumenmädchen kehrt Parsifal gereift zurück und erlebt einen Karfreitagszauber. Die trotz aller menschlichen Verfehlungen wieder erwachende Natur, das Licht und das Leuchtende, aber mehr im mystischen Sinn zu sehen, wie es der evangelische Theologe Claus-Dieter Osthövener in einem Vortrag über diese Szene des dritten Akts so eindrucksvoll zu vermitteln versteht. (Für Näheres verweisen wir auf das Internet.)
Wie wir bisher gesehen haben, ist auch in der Opernwelt der Frühling eine bevorzugte Jahreszeit. Bekannt ist das Duett, das Cio-Cio-San mit ihrer Dienerin Suzuki singt, wenn sie in sehnsüchtiger Erwartung ihres Marineleutnants überall Blumen verstreut: „Ich will, dass hier alles nach Blumen duftet. Sähen wir den Lenz rings umher.“ Hingegen wird weniger häufig die folgende rührende Stelle zitiert. Nachdem Pinkerton seinem „Schmetterling“ versprochen hat, er komme mit Rosen zurück in der heiteren Jahreszeit, wenn das Rotkehlchen sein Nest baut, fragt sie den amerikanischen Konsul, wann in Amerika die Rotkehlchen ihr Nest bauen, und versucht sich gleich darauf selbst eine Antwort zu geben, dass vielleicht drüben die Rotkehlchen weniger oft brüten.
Wir bleiben noch bei Puccini. In „La Bohème“ spielen die ersten zwei Bilder am Weihnachtsabend. Im Gegensatz zu unsrer Erfahrung, wurde anscheinend früher der Heilige Abend – es soll sich nach unsren Recherchen wirklich nicht erst um den 25. Dezember handeln – nicht so in familiärer Zurückgezogenheit begangen. Da konnte sich Franco Zeffirelli an der Wiener Staatsoper sowie an der MET beim Trubel im Quartier Latin mit einem Großaufgebot an Chor und Statisterie so richtig austoben.
Sehr einprägsam das dritte Bild an einem bitterkalten Februarmorgen am Rand von Paris. Die anfängliche Stimmung wird bloß vom Orchester und Kleinstrollen getragen. Worauf wir jedes Mal warten ist der Kontrapunkt der Paare auf der Bühne. Das lyrische Wiederzusammenfinden von Mimì und Rodolfo und der gleichzeitige lautstarke Streit zwischen Musetta und Marcello.
Manchmal bestimmt der/die Regisseur/in die Jahreszeit. So sahen an der Wiener Staatsoper Falk Richter (Regie) und Katrin Hoffmann (Bühne) „Eugen Onegin“ als ein Psychogramm des Komponisten und versetzten auch das erste Bild, in dem ein spätsommerliches Erntefest anklingt, in ein winterliches Weiß-Grau.
In der Mehrzahl der Opern spielt die Jahreszeit so zu sagen eine Nebenrolle. In Brittens „Death in Venice“ sehen wir zwar wiederholt Menschen in den Badetrikots der damaligen Zeit am Meer, aber die Plage des Schirokkos, eines Sandsturms, der sich bedrohlich auf die Atemwege legen kann, wird neben den sargähnlichen Gondeln nach Michele Girardis Beitrag zur Aufführung im Teatro La Fenice zum Symbol des Todes und zu einer abstrakten, unsichtbaren Figur der Oper.
Wir machen uns oft wenig Gedanken, in welchen Jahreszeiten die Handlung spielt. Bei Korngolds „Die tote Stadt“ denken wir unwillkürlich an den Spätherbst, an eine typische Novemberstimmung. Wir prüften kritisch nach. Im dritten Bild kommt eine Prozession vor, aus welcher man vielleicht auf ein Datum schließen könnte. Es wird aber kein Anlass erwähnt. Aus den Erläuterungen Pauls könnte es sich um den weit verbreiteten Umzug anlässlich des katholischen Hochfests von Fronleichnam im Frühjahr handeln, dessen Entstehung auf eine belgische Ordensgeistliche aus Liège zurückgeht.
Ein kleines, jahreszeitbedingtes Detail kann für eine Person von schicksalhafter Bedeutung werden. So in Sinopolis einziger Oper „Lou Salomé“. Die Erzählung von einem schmelzenden Schneemann und einer zerrinnenden Schneefrau wird für Lou zum Kindheitstrauma. Sie verliert für immer ihr Gottvertrauen und gerät mit ihren Gedanken in ein Labyrinth.
Nicht alle Gegenden der Erde kennen vier Jahreszeiten. Man kennt teils nur Sommer und Winter. Der Winter beginnt am gleichen Ort für die einen, wenn die Regenzeit beginnt, für die anderen, wenn die Blätter von den Bäumen fallen.
Lothar und Sylvia Schweitzer, 15. November 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Lothar und Sylvia Schweitzer
Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“
Schweitzers Klassikwelt 72: Die Oper und ihr Bühnenbild klassik-begeistert.de 4. Oktober 2022