„Romeo und Julia“ ist eine Zumutung – und das ist gut so!

Sergej Prokofjew, Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir, Romeo und Julia, Ballett,  Staatstheater am Gärtnerplatz, München

Foto: © Marie-Laure Briane
Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Choreografische Uraufführung am
22. November 2018
Romeo und Julia

Musik von Sergej Prokofjew
Ballett von Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir
nach der gleichnamigen Tragödie von William Shakespeare
– Altersempfehlung ab 17 Jahren –

von Barbara Hauter

„Romeo und Julia“ ist eine Zumutung. Und das ist gut so.

Noch nie hat mich ein Tanztheater so abgestoßen, fasziniert und durcheinandergebracht. Ich wollte zwischendurch einfach nur nach Haus, war aber völlig gefesselt vom Bühnengeschehen. Hoch her ging es mit meinen Emotionen in den zwei Aufführungsstunden. Was hat das Gärtnerplatztheater nur mit Romeo und Julia gemacht, mit der berühmtesten Story über die eine große Liebe?

Die TänzerInnen erscheinen in hautfarbenen Trikots, daran befestigt überdimensionale Muskeln und Hinterteile, die sekundären Geschlechtsteile grotesk betonend. „Wir sind alle Romeo und Julia“, stellen sie sich vor. Einer spielt Blut, ein anderer einen mexikanischen Wrestler, ein dritter tanzt für alle Menschen, die schon mal den Falschen geliebt haben. Das Publikum ist ganz dabei und fühlt sich angesprochen. Dann erklingt die emotionale Ballettmusik von Sergej Prokofjew, die zu dem klassischen Handlungsballett gehört. Automatisch halte ich Ausschau, wer ist ein Montagues (Romeos Familie), wer gehört zu den Capulets (Julias Clan)? Und wo sind Romeo und Julia? Ab und zu freue ich mich über ein kurzes Erkennen, aber es verschwindet sofort wieder. Denn den beiden isländischen Choreografinnen Erna Ómarsdóttir und Halla Ólafsdóttir geht es nicht um die Handlung. Sie haben Themen extrahiert. Rebellion etwa, den Tod, und vor allem die Liebe. Nicht die romantisch verbrämte, sondern die sinnliche, brutale, existentielle Sexualität. Und dabei waren sie nicht zimperlich.

Statt in Schönheit und Leichtigkeit präsentieren sich die TänzerInnen in ihrer ganzen Körperlichkeit, auch wuchtig und hässlich. Sie springen, zucken, schlittern über die Bühne. Sie bleiben nicht stumm, sie atmen laut und rhythmisch, rufen Namen, schreien. Die Körper werden zu Instrumenten. Ab und zu zitathaft ein klassischer Ballettschritt, doch die im Ballett so starre Rollenverteilung zwischen weiblichen und männlichen Tänzern wird komplett aufgehoben. Heroische Posen von Frauen eingenommen, die Aufgaben in den Hebefiguren neu verteilt – Frauen heben Frauen, Männer auch Männer. Vom Theaterhimmel herab schwebt ein riesiges pinkes Neon-Herz, die Tanzpaare darunter winden sich orgiastisch. Der goldene Vorhang im Hintergrund fällt und bedeckt wie flüssiges Gold die Körper. Eine christushafte Liebesgöttin erhebt sich aus der goldenen Landschaft und nährt die verschiedensten Paare, hetero- wie homosexuelle, an ihrer blutigen Brust. Ich versuche zu deuten: was bedeuten die Cheerleader, die erst mit roten Pompons, später mit Haarteilen wedeln, die abgeschnittenen Plastik-Hände? Ich gebe auf. Pause.

Nach der Pause sind die Zuschauerreihen deutlich gelichtet. Vielleicht gut so, denn nun wird es richtig heftig. Die TänzerInnen paaren sich und beschmieren sich dabei mit Theaterblut, mit viel Blut. Ein Film zeigt Haut in Nahaufnahme, verklebt, aufeinander gepresst, sich trennend, mir erscheint es fast pornografisch. Ich bin erschöpft, als am Ende ein schwarzes Herz über die Bühne taumelt. Ein Symbol für den Abgesang auf die Liebe? Das Ballett hat alle meine Erwartungen an Tanz und an das Thema auf den Kopf gestellt. Es ist radikal. Und auf eine gute Weise verrückt. Es verrückt Dinge in meinem Kopf. Bleibt in Zeiten von Me-Too von Liebe nur die schmutzige, energiegeladene Sexualität? Ist sie eine Währung, und ist Nähe zwischen Menschen überhaupt noch möglich? Und was ist nun weiblich, was ist männlich?

Die Tanzperformance ist sowohl für die Darsteller als auch für das Publikum eine Herausforderung, sie ist ein alptraumhaftes Monster. Eine abstrakte Welt voller Blut, Liebe, Feuer, Tanz und Tod. Als Zuschauer muss man unangenehme Gefühle aushalten und sich deutlich aus der Komfortzone herausbewegen. Die wenigen Buhs galten wohl dieser Anstrengung, die viel lauteren Bravi dieser Leistung der Inszenierung:  Sie zeigt, das Kunst vor allem mit Mut zu tun hat.

Warnung: Dieses Romeo-und-Julia-Ballett ist nicht geeignet als Weihnachtsgeschenk an die tanzende Tochter! Die Altersangabe ist absolut ernst zu nehmen!!!

Um romantische Liebe geht es auch nicht…

Barbara Hauter, 24. November 2018, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Musikalische Leitung: Daniel Huppert

Choreografie: Erna Ómarsdóttir, Halla Ólafsdóttir

Bühne: Chrisander Brun

Kostüme: Sunneva Ása Weisshappel

Licht: Jakob Bogensperger

Video: Valdimar Jóhannsson

Dramaturgie: Daniel C. Schindler

Mit Alessio Attanasio, Özkan Ayik, Guido Badalamenti, Rita Barão Soares, David Cahier, Anna Calvo, Marta Jaén, Rodrigo Juez Moral, Amelie Lambrichts, Thomas Martino, James Nix, Isabella Pirondi, Ariane Roustan, Verónica Segovia, Luca SeixasJavier Ubell, David Valencia, Lieke Vanbiervliet, Chiara Viscido

Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz

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