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Nachgedanken zum Saison-Abschlusskonzert in der
Elbphilharmonie, 30.Juni 24 unter Alan Gilbert oder Der Abend der Tschechen
Antonín Dvořák
Die Geisterbraut op. 69 / Dramatische Kantate zu Worten von K. J. Erben für Solisten, Chor und Orchester
Laeiszhalle, 1. Feber 2015
von Harald Nicolas Stazol
Können Sie tschechisch? Tschechisch singen gar? Nein??? Das ist aber schlecht: Denn dann können Sie die Mär der „Geisterbraut“ des Antonín Dvořák ja gar nicht verstehen! Dieses für mich so bedeutungsvollen und anbetungswürdigen Werkes, das so wenig gespielt wie wenig bekannt ist, was ich hiermit geändert zu wissen wünsche.
„Vor der Darbietung in England wurde die Kantate zuerst zweimal am 28. und 29. März 1885 unter Leitung des Komponisten in Pilsen präsentiert. Der Erfolg der Aufführungen beim Birmingham Triennial Music Festival am 27. August dieses Jahres – unter Einbeziehung eines 400-köpfigen Chores, eines 150-köpfigen Orchesters und mit Dvořák am Dirigentenpult – übertraf alle Erwartungen des Komponisten.
Bereits am 2. Dezember 1885 kam das Werk in Milwaukee zu Gehör, am 1. Februar 1886 in Edinburgh, am 2. Februar 1886 in London, 11. und 13. Februar 1886 in Glasgow, am 13. Februar 1886 in London. Im März 1886 folgte Brooklyn, am 23. März 1886 Dewsbury, am 24. März 1886 Leeds, am 17. April 1886 Hradec Králové, am 6. Mai 1886 Chicago, am 10. Mai 1886 Philadelphia, am 13. Mai 1886 Boston …“
Antonín Dvořák ist wiederum am Puls der Zeit. Gerade ist Bram Stokers Dracula erschienen, Shelleys „Frankenstein“, bald wird Aleister Crowley sein okkultes Unwesen treiben – und der Hof des Empires trägt seit dem Ableben Alberts, Victorias Geliebten und Gatten, schwarz.
Schwarz im Theater, schwarz in der Oper, schwarz auf den Soiréen – immerhin Hintergrund für die Brillant-Paruren und Perlenkolliers, beide natürlich erst ab 8.00 p.m. – und schwarz auf der Rennbahn, weswegen man von einem „Black Ascot“ spricht. Hier sind die Ursprünge des „Gothic“, das uns ja nun so „erschreckend“ häufig im Straßenbild erscheint, dies nur als Aperçu. Eine Enzyklopädie der Szene und ihrer Philosophie ist der Band „Schillerndes Dunkel“, Ploettner Verlag, Leipzig 2013.
Doch wir schweifen ab:
Denn Dvořák spürt den Zeitgeist, „the Zietgieest“, wie ihn die Amerikaner nennen – aber von der Neuen Welt sprachen wir ja schon, und der Begriff erscheint mir eher aus dem 20. Jahrhundert?
Und so schafft der marketingmäßig äußerst geviefte Antonín einfach mal so etwas wie eine „Gothic Opera“, nun gut, ein Klangpoem eher, ein dunkles Märchen um ein unschuldiges Mädchen, mit Musicalcharakter – eben „Die Geisterbraut“, deren nun wirklich gruuuuuuselige Story hier erstmals in verständlicher Zusammenfassung erscheint! (Trommelwirbel,Tusch)
Eine holde Maid wartet sehnlichst auf den Geliebten, der dann auch erscheint, um sie durch die Weiten und Welten und Wiesen des „Ma Vlast“, Smetanas „Mein Vaterland“, zu ziehen, natürlich, huibuh, in finsterer Nacht. Leider stellt sich heraus, dass der Bräutigam ein wandelnder Toter ist, der sie ins Totenreich entführen will. Meine Lieblingsarie, der Zombie reagiert auf „Buchbucbuch“ Klopklopfklopf, unheimlich unheimlich.
Aber nein, wir bedienen uns dem ganzen, famosen Précis des Librettos, das Programmheft des Sommer im Züblin-Haus, 16. und 17. Juli 2011, von der geschätzt-bewunderten Veronika Stoertzenbach:
„Zunächst beschäftigte ihn der Gedanke an ein nationales Oratorium von ausgesprochen tschechischem Kolorit. Dann fand er im „Blütenkranz“, einer Sammlung nationaler Sagen von Karel Jaromír Erben, einen fantastisch romantischen Stoff, der ihn sofort faszinierte: „Svatební košile“ („Die Brauthemden“), ein Sujet, das sich auch in anderen Ländern großer Beliebtheit erfreute. Die verlassene Braut betet inständig zur Mutter Gottes, sie möge den Bräutigam zurückkehren lassen, der nun schon drei Jahre fort ist. Sie habe all seine Anweisungen erfüllt, Flachs angebaut, gesponnen und zu Brauthemden verarbeitet. Nun könne sie ohne ihn nicht weiterleben.
Da klopft der Bräutigam nachts ans Fenster und bittet die Braut, ihn noch in der gleichen Nacht zum Manne zu nehmen und ihm ins Brautgemach zu folgen. Sie lässt sich widerstrebend darauf ein, ahnt nicht, dass er bereits tot ist, und folgt ihm.
Der zweite Teil schildert den unheimlichen Gang der Brautleute durch die Nacht. Sie will sich durch allerlei Fragen Gewissheit verschaffen, er hastet ungeduldig voran und entreißt ihr nach und nach das Gebetbuch, den Rosenkranz und das Kreuz, Symbole ihres unerschütterlichen Glaubens.
Im dritten Teil haben die Brautleute den Friedhof und das Totenhaus erreicht.
„Behagt dem Schätzchen Haus und Heim?“ fragt der „untote“ Bräutigam. Die Braut, entsetzt von makaberer Erkenntnis, flieht ins Totenhaus und verriegelt es. Nun verlangen die Heerscharen der Finsternis zusammen mit dem Bräutigam Einlass und nur die Gebete der Braut retten sie vor der ewigen Verdammnis.
Dvořák faszinierten die dichterische Gestaltung der Ballade, der Reichtum der sprachlichen Bilder, die Dynamik der Schilderung und zuletzt auch der versöhnliche, verklärende Schluss. Er lehnt die Vertonung eng an die dichterische Vorlage an.
Die Protagonisten, Braut und Bräutigam, werden von den Solisten gesungen.
Dem Chor kommt die große Rolle des Erzählers zu, der die Handlung schildert und vorantreibt. Zur Seite steht dem Chor der Bass-Solist, meist mit dem gleichen Text antwortend.
Am Schluss in der Friedhofszene greift der Chor selbst aktiv in die Handlung ein: „Heb dich, du Toter, heb nun Aug’ und Blick, steh auf, den Riegel schieb zurück!“ Die höllischen Heerscharen rufen einem Toten im Totenhaus zu, er solle die Türe aufschließen.“
In einem unendlichen Glücksfalle höre ich die imposante Kantate in der Laeiszhalle, neben mir mein Musikwissenschaftler Henning – wie lange ich so einen Konzertfreund ersehnte – vor uns und uns umschlingend Orchester und Chor und Solisten von der Hochschule der Musik – und nach einem schönen Einführungsvortrag des Direktors bei Häppchen und Sekt, flugs, was wird da AUFGESPIELT!!!
Und nun entfaltet sich ein Komponist, der sich schon deswegen und mir erwiesenermaßen als Genie hier vollends verwirklicht – ja, im op.69 outet er sich als unangefochtener Großmeister: „Jeder der gewaltigen 19 Sätze ist eine Melodie, ein Thema, eine Durchführung, Coda, die für eine eigene Symphonie genügte“ sage ich einem Grüppchen Studenten im Foyer danach, nach Geistern und einer Braut, aber ich weiß nicht, ob man mir folgen kann – Dvořák ist so voller Ideen, er kann es sich leisten! Zehn Opern schreibt der Mann, für sein Gesamtwerk auf Wikipedia muss man dreimal scrollen, so produktiv ist der tiefreligiöse Vollender einer tschechischen Nationalmusik.
Hui Buh!
Harald Nicolas Stazol, 13. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
P.S.: Hier, wie versprochen die tschechische Lektion, die Titel der einzelnen Sätze im Original und ins Deutsche übertragen:
- Introduktion
- 1. Chor: „Už jedenáctá odbila“ – „Schon eilt die Uhr gen Mitternacht“
- 2. Sopran solo: „Žel bohu, žel, kde můj tatíček?“ – „Weh mir, ach weh! wo ist mein Vater hin?“
- 3. Tenor und Bass solo und Chor: „Pohnul se obraz na stěně“ – „Da regt das Bild sich an der Wand“
- 4. Duett. Sopran und Tenor solo: „Hoj, má panenko, tu jsem již!“ – „Hei, du mein Lieb, hier steht dein Knab!“
- 5. Bass solo und Chor: „Byla noc, byla hluboká“ – „Weiten und Breiten tiefe Nacht“
- 6. Bass solo und Chor: „A on tu napřed skok a skok“ – „Und er voran mit Sprung und Satz“
- 7. Duett. Sopran und Tenor solo: „Pěkná noc, jasná“ – „Klar ist die Mondnacht“
- 8. Bass solo und Chor: „Knížky ji vzal a zahodil“ – „Schleudert’ das Buch ins Feld im Flug“
- 9. Bass solo und Chor: „A on vždy napřed – skok a skok“ – „Und er voran mit Sprung und Satz“
- 10. Duett. Sopran und Tenor solo: „Pěkná noc, jasná, v tomto čase“ – „Klar ist die Mondnacht“
- 11. Bass solo und Chor: „Abyla cesta nížinou“ – „So zogen sie durch dunklen Grund“
- 12. Duett. Sopran und Tenor solo: „Pěkná noc, jasná, v tu dobu“ – „Klar ist die Mondnacht“
- 13. Bass solo und Chor: „Tu na planině široké“ – „Steht wohl ein Haus auf weitem Plan“
- 14. Duett. Sopran und Tenor solo: „Hoj, má panenko, tu jsme již“ – „Sind schon, mein Schätzen, sind daheim!“
- 15. Bass solo und Chor: „Skokem přeskočil ohradu“ – „Er sprang mit klafterhohem Satz“
- 16. Bass solo und Chor: „A tu na dveře: buch, buch, buch!“ – „Und poch, poch, poch, hallt’s wild und schnell“
- 17. Sopran solo: „Maria Panno, při mně stůj“ – „Heilige Fraue, höre mich“
- 18. Bass solo und Chor: „A slyš, tu právě nablízce“ – „Und horch, im nahen Dorf ein Hahn“
Dvořák „Besser spät, als nie – Teil I“ klassik-begeistert.de, 6. August 2024
Antonín Dvořák (1841-1904), Rusalka, Neuinszenierung Opéra Royal de Wallonie-Liège, 25. Januar 2024
Antonin Dvořák, Rusalka, in tschechischer Sprache Garsington Opera 30. Juni 2022