SF 2024, WPH Riccardo Muti © Marco Borrelli
Dass nach Celibidache noch einmal jemand kommen würde, der dem klanglichen Spektrum im weit gefächerten Panorama vergleichbar Raum geben würde, stand nicht unbedingt zu erwarten.
Aber jetzt hat sich mit Riccardo Muti doch noch einmal ein großer Maestro als ein solch genialer Dirigent von Bruckners Achter empfohlen. Erstmals dirigierte er sie am Pult der Wiener Philharmoniker.
Anton Bruckner: Symphonie Nr.8 WAB 108
Wiener Philharmoniker
Musikalische Leitung: Riccardo Muti
Salzburg, Großes Festspielhaus, 17. August 2024
von Kirsten Liese
Die Sitzplätze reichen von vorne bis hinten nicht aus, wenn Riccardo Muti traditionell Mitte August bei den Salzburger Festspielen die Wiener Philharmoniker dirigiert, auf beiden Seiten der Bühne wurden noch Stuhlreihen angebaut.
Nach nunmehr 54 Jahren glanzvoller Zusammenarbeit mit diesem Spitzenorchester ist Muti der einzige, selbst unter legendären Altmeistern, bei denen das Große Festspielhaus ausverkauft ist. Seine Konzerte markieren stets den Höhepunkt der Festspiele. Noch doppelt so viele Male hätten sie die Konzerte unter ihm verkaufen können, davon können die meisten übrigen Dirigenten, für deren Konzerte am Tag selbst noch Karten erhältlich waren, nur träumen.
Es entspricht seinem großen Respekt vor der Musik, dass sich der 83-jährige Maestro Bruckners monumentale Achte, die er nun zum ersten Mal dirigierte, bis ins hohe Alter aufbewahrt hat. Wie Beethovens Missa Solemnis, die er vor drei Jahren ebenfalls zum ersten Mal an diesem Ort dirigierte. Auch wenn es nach einem Klischee klingen mag: Bestimmte Werke erschließen sich nun einmal erst in höherem Alter.
Dazu gehört die Erkenntnis, dass eine Musik unter großer Beteiligung von Hörnern, Trompeten, Posaunen und Tuba viel Zeit braucht, damit sich ihr Klang in aller Pracht entfalten kann. Je schneller es geht, desto komprimierter wird er, kann das Blech weniger ausschwingen und Mittelstimmen und Obertöne sind dann kaum noch fassbar.
Die meisten großen Bruckner-Dirigenten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Eugen Jochum, Herbert von Karajan und Günter Wand sind den Kopfsatz sowie vor allem das Scherzo und das Finale dennoch ziemlich schnell angegangen. Allein Celibidache, der alterweise für die physikalischen Gesetzmäßigkeiten dieser Musik eintrat und sie – fasziniert von der Zen-Mystik – bis in tiefste Fasern hinein in ihrer Spiritualität erlebte, zelebrierte sie in magischer Langsamkeit.
Dass nach ihm noch einmal jemand kommen würde, der dem klanglichen Spektrum im weit gefächerten Panorama vergleichbar Raum geben würde, stand nicht unbedingt zu erwarten.
Aber jetzt hat sich mit Riccardo Muti doch noch einmal ein großer Maestro als ein solch genialer Bruckner-Dirigent empfohlen, der mit 97 Minuten auf eine ähnliche Gesamtlänge kommt wie der Solitär Celi, der es mit seinen Münchner Philharmonikern auf über 100 Minuten brachte. Die Durchschnittslänge in den Wiedergaben der meisten Dirigenten liegt bei etwa 80 Minuten, das allerdings auch bei unterschiedlichen Fassungen. Celibidache bevorzugte die zweite Fassung von Leopold Nowak, Mutis Wahl fiel auf die Mischfassung der ersten und zweiten Ausgabe von Robert Haas. Aber das nur am Rande.
Entscheidend ist natürlich das klangliche Erleben bei durchweg gehaltener Spannung! Und das ist an diesem Vormittag so gewaltig, dass man kaum zu atmen wagt. Majestätisch und brillant tönen Hörner, Tuben, Trompeten und Posaunen in herrlichstem Gold im Kopfsatz, die Streicher singen ihre Triolen dolcissimo, auf den tiefen Saiten freilich herrlich markig und satt.
Aber nicht nur Streicher und die Holzbläser der Wiener musizieren aufs Wunderbarste Linien, sondern auch Hörner und Trompeten legen in solistischen Überleitungen einen lyrischen Feinsinn an den Tag, der Staunen macht. Wie das überhaupt möglich ist, auf einem Instrument mit Ventilen eine Melodie auf einem solchen weiten Atembogen zu musizieren, frage ich mich.
Zum altersweisen Stil des Maestros gehören seine sparsamen Zeichen. Nach einer so langen gemeinsamen Zeit mit den Wienern weiß oder spürt er genau, wo es eines Impulses bedarf und wo er laufen lassen kann. Größer werden seine Bewegungen in Momenten, in denen sich einzelne Instrumente oder Instrumentengruppen gegen die Übrigen rebellisch mit asynchronen Akzenten aufbäumen. Da holt Muti mit den Armen energischer aus, und dann und wann, wenn die Wiener – wiewohl auf einem Herzschlag mit dem Maestro – noch eine Spur zu laut spielen, geht er tiefer in die Knie.
Und wenn im Finale zum Ende hin die tiefen Streicher imitatorisch nacheinander einsetzen, zeigt sich erneut, wie hilfreich es ist, Bruckners Anweisung „feierlich, nicht schnell“ ernst zu nehmen. Nur so bleibt schließlich bei vollem Orchesterklang eine Durchhörbarkeit gewahrt.
Bei allen filigranen Raffinessen und Transparenz im polyphonen Dickicht greift Muti für die lang angelegten Steigerungen und Gipfelgänge zum ganz großen Besteck. Am Ende solcher Entwicklungen stehen dann vor den Generalpausen Blöcke wie Monolithen. Und unweigerlich drängt sich die Frage auf, wie es Bruckner geschafft hat, so etwas wie die Ewigkeit in die Noten hineinzubekommen.
Aber nicht weniger wohlige Gefühle und leichte Schauer stellen sich im feierlichen Adagio ein mit all seiner Sehnsucht, seinem Trost und der unendlichen Zärtlichkeit, wie sie sich etwa in dem lyrischen Thema in den Celli vermittelt.
Besonders ätherisch wird es freilich, wenn sich in der fortgesetzten Episode des ersten Themas die Harfen mit silbernen Arpeggien über die Streicher legen. Einer der magischsten Momente in der ganzen Sinfonie, auch wenn Bruckner selbst meinte, dass dies die absolute Ausnahme sei, weil Harfen eigentlich in keine Sinfonie gehörten. Höchst interessant fand ich es hier zu beobachten, dass in Mutis Wiedergabe an dieser Stelle ein leichter Schimmer von Melancholie hineinkommt, den ich in der Weise in anderen Einstudierungen noch nicht vernommen hatte. So wird aus purer Schönheit eine leicht schmerzliche.
Das Publikum weiß die Qualitäten dieser einmaligen Aufführung zu würdigen, es folgt der Wiedergabe gebannt ohne Husten und Räuspern, lässt sich mitreißen von dieser spirituellen, meditativen Reise, überwältigen von Wechselbädern zwischen tiefster Betrübnis und dankbarster Glückseligkeit.
Bleibt zu hoffen, dass Muti demnächst auch Bruckners Neunte mit den Wienern in Angriff nehmen wird. Von wem außer ihm ließe sich hoffen, auch dieses berühmte, vielfach überhetzte Scherzo mit seinem motorischen Rhythmus halb so langsam erleben zu dürfen wie gewohnt?
Kirsten Liese, 18. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Wiener Philharmoniker, Riccardo Muti Salzburg, Großes Festspielhaus, 15. August 2023
Vielen Dank für die wunderbare Kritik! Ich werde versuchen, in den nächsten Jahren wieder öfters bei den Festspielen und Muti zu sein.
Rodrigo