Sol Gabetta. Foto: © Julia Wesely
Philharmonie im Gasteig München, 26. September 2020
Dmitrij Schostakowitsch
Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 Es-Dur op. 107
Franz Schubert
Symphonie Nr. 4 c-Moll D 417 „Tragische“
Sol Gabetta, Violoncello
Valery Gergiev, Dirigent
Münchner Philharmoniker
Von Frank Heublein
Die Beschränktheit meiner eigenen Empfindung macht mir eine Freundin offensichtlich, die ich beim Konzert treffe. Sie ist eine russisch-stämmige Lettin. Nach Ende des Konzerts strömt sie förmlich aus ihr heraus, ihre russische Seele – ihre Worte –, voller Erinnerungen an Familie und an die Restriktionen der sozialistischen Sowjetunion. Ich ertappe mich beim Gedanken, dass mir meine Empfindungen demgegenüber klein vorkommen. Kleine Empfindungen gibt’s ja gar nicht!, rücke ich mich gedanklich zurecht. Es zeigt mir einmal mehr, dass die Berührung durch Musik einen sehr großen persönlichen Anteil hat.
Diesen persönlichen Anteil veräußert Sol Gabetta unglaublich. Die Musik durchströmt sie sichtbar, sie schwingt mit dem Orchester mit, um wunderbar dynamisch den Bogen für ihre Einsätze zu setzen. An Sol Gabetta – fürchte und liebe ich – habe ich einen kleinen Teil meines Herzens verloren, das spüre ich in diesen Momenten.
Dmitrij Schostakowitschs erstes Konzert für Violoncello und Orchester steht auf dem Programm. Den ersten Tönen des Cellos folgt wildes Treiben des Orchesters. Ganz so als wäre das Cello – als Person – in einer chaotischen Fluchtsituation. Es sucht Orientierung, die Streicher jedoch und auch die Holzbläser lassen diese nicht zu. Beide Musikgruppen verströmen ein Hin und Her, in dem das Cello wogt und keinen festen Halt oder Anschluss findet. Doch halt! Das einzige Blechblasinstrument der Besetzung, ein Horn, tritt in den Dialog mit dem Cello. Es gibt dem Cello ein klein wenig Zuversicht, sich in den musikalischen Wirren zurecht zu finden. Die Pauke beendet abrupt brutal die Situation – den ersten Satz, mit Allegretto überschrieben.
Es folgt das Moderato, im Beginn spüre ich in mir ein kurzes Durchatmen. Doch sehr bald pirschen sich die bedrohlichen Wirren, die Unsicherheit der Situation wieder in die Musik. Die Cadenza hat Schostakowitsch auskomponiert und diese fungiert als dritter Satz. Eine strukturell ungewöhnliche Stelle für den Solopart. Für mein Gespür des Ablaufs, der Abfolge meiner erlebten inneren Erzählung absolut folgerichtig. Das Cello reflektiert die Situation um sich herum, seine Chancen, Möglichkeiten, die Gefahren. Und stürzt sich erneut ins wilde Treiben im abschließenden Allegro con moto. Die Situation kulminiert, wandert in immer neue wirre Höhen. Sol Gabetta verkörpert dieses Anbranden, die gekonnte Aufnahme der energetischen Welle des Orchesters. Ich spüre eine klare Veränderung gegenüber dem ersten Satz. Das Cello hat den Kopf oben. Obwohl es das Orchester nicht kontrollieren kann, hat es jetzt seinen Standpunkt gefunden. Die musikalische Festigkeit des Soloinstruments wird durch die Holzbläser drängend geprüft. Das Cello besteht!
Großer Applaus der 500 anwesenden Besucher. Sol Gabetta lässt sich zu einer kleinen Zugabe bewegen. Sie zupft – ist das etwa eine Partita von Bach? Ich bin den Atem anhaltend fasziniert, wie melodiös flüssig Sol Gabetta dieses Kleinod auf diese überraschende Weise erklingen lässt.
Eine kurze Umbauphase. Pause gibt es nicht in Zeiten von Corona.
Franz Schuberts Symphonie Nr. 4 ist als „Tragische“ benannt. Für den Musiker trifft dieser Name im Bezug zum Werk ganz sicher zu, denn seine frühen Symphonien hat der Komponist nie öffentlich vom Orchester aufgeführt erlebt. Die vierte 1816 komponierte Symphonie erlebte ihre erste öffentliche Aufführung erst 1849.
Ich habe soeben Schostakowitschs Cellokonzert gehört. Dieses Stück legt sich als Prädisposition auf mein Hören der Schubert’schen Symphonie.
Ich empfinde den ersten Satz vordrängend, suchend, die Musik klingt, als wäre sie leicht zu verstören, vorsichtig, und doch: Ich kann es noch nicht richtig einordnen, ich spüre zugleich eine Art Eingebremstsein, die Zügel eines Dirigats, die das musikalische Symphonie-Wesen und damit die Ausführenden Münchner Philharmoniker kontrolliert und bewusst nicht mit voller Geschwindigkeit bewegt, die mir musikalisch spürbar nachvollziehbar möglich wäre.
Der zweite langsame Satz, Andante überschrieben, auch hier wie bei Schostakowitsch schon, ein Ausruhen, ein Suchen nach Möglichkeiten des gewinnenden Vorankommens. Im Gegenteil zu Schostakowitsch allerdings entfaltet sich die Ruhe, das Retardierende. Ich gewinne Zuversicht – die habe ich im Cellokonzert vorher so nicht empfunden.
Im dritten Satz erinnere ich mich an den ersten, denn Gergiev kontrolliert, bremst auch das Allegro vivace ein, tariert. Mein Optimismus belebt sich aufs Neue, dass das Suchende sich zwar immer wieder vorsichtig, aber um viele Ecken entdeckend nach vorne bewegt.
Der vierte Satz beginnt, und alle Bremsen sind plötzlich gelöst. Eilig drängt die Musik nach vorne. Kontrastiert die vorhergehenden drei Sätze deutlich. Überrascht mich mit dem Geschwindigkeitswechsel. Ich unterstelle: Das ist Gergievs Plan gewesen. Diesen Kontrast so stark und deutlich auszuprägen. Die Stärke der Dynamik des Werkes auf diese Art auszustellen. Im vierten Satz gewinnt für mich die Suche, das Drängende an Direktheit, es geht schnell voran. Geraden Wegs auf das Ziel zu. Die Klarheit zu wissen, wo die Musik, ich mit ihr lang gehen muss, durchströmt mein Inneres. Ich bin bereit! Nicht, dass ich im Erklingen des Schlussakkords das Ziel erreicht hätte, aber ich sehe es deutlich vor Augen. Land in Sicht!
Die besondere Qualität der Aufführung liegt für mich in den Decrescendi, den leisen zarten Tönen. Sie bringen mich – und wie ich meine, auch das Orchester – wieder und wieder in eine Art des Innehaltens, die die Konzentration stärkt, die Sicht nach innen wendet. Ich nehme den Widerhall des Gehörten intensiver in mich auf, bin ganz bei mir und zugleich ganz aufmerksam bei oder vielmehr in der Musik und deren Voranschreiten. So geht für mich der Plan Valery Gergievs – in diesem Fall ist er der Meister der Offenbarung des dynamischen Prozesses – auf, dank „seiner“ hervorragend aufgelegten Münchner Philharmoniker.
Die einleitenden Worte des Intendanten Paul Müller der Münchner Philharmoniker gebe ich am Ende weiter: Das Zulassen von 500 Zuhörern im Publikum in der Philharmonie im Gasteig in München ist ein Pilotprojekt, dass für drei Häuser in Bayern Ende September ausläuft. Für das bayerische Gesundheitsministerium ist das Aufbehalten der Mund-Nasen-Bedeckung auch während des Konzerts wichtig. Ich hatte sie noch gar nicht abgesetzt. Ich lasse sie auf. Klar! Wenn es das ist, den Konzertbetrieb (und den Kulturbetrieb ganz allgemein) größtmöglich aktiv zu halten, für so viele Menschen wie möglich. So könnte auch kleineren Häusern die Möglichkeit eröffnet werden, mehr Personen einlassen zu dürfen. Mein Lebenselixier. Das Lebenselixier vieler: live und lebendig erlebte Kunst.
Frank Heublein, 27. September 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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