Sommereggers Klassikwelt 110: Ginette Neveu – Ein nur kurz leuchtender Stern

Sommereggers Klassikwelt 110: Ginette Neveu

Als der Pilot der Air France Maschine am 28. Oktober 1949 beim Anflug auf die Azoren die Inseln Santa Maria und São Miguel verwechselte, da er auf Sicht flog, prallte die Maschine gegen einen Berg. Alle 48 Menschen an Bord verloren dabei ihr Leben.

von Peter Sommeregger

Der Flug Paris-New York sollte auf den Azoren zum Auftanken unterbrochen werden. Flüge in die USA waren zu dieser Zeit noch wenigen privilegierten und wohlhabenden Menschen vorbehalten, daher befanden sich unter den Toten nicht wenige bekannte Persönlichkeiten. Unter ihnen war der ehemalige Boxweltmeister Marcel Cerdan, der auf dem Weg zu seiner Geliebten Edith Piaf war. Prominenteste Opfer aber waren die bereits weltberühmte Geigerin Ginette Neveu und ihr Bruder Jean, der seine Schwester auf der vorgesehenen dreimonatigen Tournee durch die USA als Pianist begleiten sollte.

Ginette Neveu, 1919 in Paris geboren, zeigte schon früh musikalisches Talent, während eines Studiums an der Pariser Musikhochschule trat sie bereits mit sieben Jahren erstmals öffentlich auf, mit neun Jahren wurde sie bereits mit einem Preis der Hochschule ausgezeichnet. Sie nahm regelmäßig an Wettbewerben teil, bei dieser Gelegenheit wurde der legendäre Carl Flesch auf sie aufmerksam, der ihr in den folgenden Jahren Unterricht gab.

1935 gewann Ginette Neveu den renommierten Wieniawski-Wettbewerb in Warschau vor dem elf Jahre älteren David Oistrach und leitete damit eine Weltkarriere ein. Der Zweite Weltkrieg bedeutete für die Karriere der Geigerin eine Zäsur, Tourneen waren während der Kriegsjahre nicht möglich und die Künstlerin begab sich während der Besetzung Frankreichs in innere Emigration.

Nach Kriegsende nahm Neveus Karriere schnell an Fahrt auf. Legendär ist ein Konzert, in dem sie am 3. Mai 1948 in der Hamburger Musikhalle unter Hans Schmidt-Isserstedt das Brahms- Violinkonzert spielte. Ein Mitschnitt davon ist erhalten und übertrifft in künstlerischer Hinsicht die früher entstandene Schallplattenaufnahme des Werkes deutlich. Gemessen an der Zeit, die Neveu für Plattenaufnahmen zur Verfügung stand, hat sie der Nachwelt erfreulich viele Dokumente ihrer Kunst hinterlassen. Die Violinkonzerte von Beethoven, Brahms und Sibelius sind darunter, auch kürzere Stücke von Chausson, Suk, de Falla und anderen. Sie dokumentieren die Virtuosität Neveus, ihr kraftvoll viriles Spiel, das aber gleichzeitig auch in beseeltes Piano zurückgenommen werden konnte.

Seit ihrer Entstehung gehören die Aufnahmen Neveus zu den Ikonen des Violinspiels und fehlen in keiner Sammlung von Liebhabern dieses Genres. Zum hundertsten Geburtstag Neveus veröffentlichte das Label Warner eine Box mit sämtlichen remasterten kommerziellen Aufnahmen der Künstlerin.

Über den Verbleib ihrer beiden kostbaren Geigen, die sie im Flugzeug mitführte, existieren einige Legenden, deren Wahrheitsgehalt nach über 70 Jahren wohl nicht mehr überprüfbar ist. So soll die tote Ginette ihre beschädigte, aber nicht verbrannte Stradivari im Arm gehalten haben. Es wurde auch behauptet, der im Wrack gefundene Geigenkasten wäre leer gewesen, nach dem Unglück wäre ein Landstreicher bei dem Spiel auf einem sehr edlen Instrument beobachtet worden.

Wie auch immer, die Nachwelt muss sich mit den Tonaufnahmen Neveus trösten, die einen Eindruck davon geben, über welch großes  Potential sie verfügte. Das Grab der Geschwister Neveu auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise ist jedenfalls bis heute immer wieder mit Blumen geschmückt.

Peter Sommeregger, 27. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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