Spelzhaus Spezial 4: Bereicherung unserer Kulturlandschaft

Spelzhaus Spezial 4  klassik-begeistert.de

Ich bin und bleibe ein großer Fan der Livemusik. Ich freue mich riesig auf den Moment, wo die Theater und Konzertsäle ihre Tore wieder für Künstler und Zuhörer öffnen. Aber das, was im Moment an Kreativität entsteht, die digitale Vernetzung von Musikern und Zuhörern aus aller Welt, ist in der heutigen Zeit ein Geschenk und könnte auch in Zukunft eine Bereicherung unserer Kulturlandschaft bedeuten.

von Dr. Petra Spelzhaus

Es ist der 30. April 2020: Die einen nennen es Walpurgisnacht, die anderen Beltane. Der Tanz in den Mai fällt aus wohlbekannten viralen Gründen ins Wasser. Wir gehen unserer mittlerweile zur guten Gewohnheit gewordenen Betätigung nach und schalten uns um 21 Uhr MEZ live auf einen Youtube-Streamingkanal.  Wir werden freundlich von Herbie Hancock zum internationalen Jazztag der UNESCO begrüßt. Seit 2012 wird dieser Tag mit Lifekonzerten rund um den Erdball gefeiert. Dieses Jahr ist alles anders. Das geplante Hauptkonzert in Kapstadt kann ebenso wie viele andere Veranstaltungen weltweit nicht stattfinden. Stattdessen treffen sich Künstler aus aller Herren Länder wie Marcus Miller, John McLaughlin, Dianne Reeves, Dee Dee Bridgewater, Lang Lang, Lizz Wright, John Scofield und viele andere zum virtuellen Stelldichein.

Die Corona-bedingte Entschleunigung lässt sich auf vielerlei Arten nutzen. Ich habe mir nichts Geringeres vorgenommen, als die gesamte Jazzgeschichte zu inhalieren und mir Standardwerke vorgeknöpft. Bin ich auf spannende Protagonisten gestoßen, konnte ich sie mir sogleich auf den bekannten Streamingportalen anhören. Eine großartige multimediale Erfahrung.

Die Entwicklung des Jazz ist eng verbunden mit der Sklavenhaltung von afrikanisch stämmigen Menschen im Süden der USA. Auf den Feldern sangen die Arbeiter sogenannte Worksongs, Musik, die aus der Situation heraus spontan erfunden und weitergeführt bzw. variiert wurde. Diese bildeten Mitte des 19. Jahrhunderts die Vorform des Blues. Der Blues bildet für viele die Essenz des Jazz. Eine herausragende Interpretin war Bessie Smith. Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Rag Time („zerfetzte Zeit“) von schwarzen Musikern entwickelt. Dieser bildete eine Symbiose zwischen europäischer und afro-amerikanischer Musik. Der rhythmusbetonten Musik fehlte jedoch das für den Jazz typische Element der Improvisation.

Um die Jahrhundertwende wird die Entstehung des New Orleans Jazz angesiedelt. Die Stadt am Mississippi war ein musikalischer Schmelztiegel: zwei unterschiedliche schwarze Bevölkerungsgruppen trafen aufeinander: die Kreolen und die Afroamerikaner. Diese wiederum sahen sich ständig mit der europäischen Kunst- und Unterhaltungsmusik konfrontiert. Man unterschied den ausdrucksstarken New Orleans Jazz der schwarzen Bands vom technisch versierteren Dixieland Jazz der weißen Gruppen, wobei die Grenzen fließend waren, zumal auch weiße Musiker in schwarzen Bands mitspielten und umgekehrt. In den 1920er Jahren spielte sich der Jazz zu großen Teilen in Chicago ab. Die großen Musiker des New Orleans Jazz fanden sich in der Metropole am Michigansee wieder. Etwa zeitgleich gelangte dort auch der Blues zur Blüte. Weiße Schüler und Studenten versuchten ihre schwarzen Vorbilder nachzuahmen, was nur bedingt gelang, aber den neuen Chicago-Stil hervorbrachte. An Stelle der Kollektivimprovisationen trat der einzelne Solist mehr in Erscheinung.

Die 1930er-Jahre waren geprägt von der Swing-Musik und den großen Big Bands, unter anderem die von Count Basie aus Kansas City oder das Orchester des King of Swing aus Chicago: Benny Goodman. Aus dem Swing wurde ein gigantisches Geschäft, als in den 1940er-Jahren Musiker aus verschiedenen Gegenden der USA den Bebop, eine antipopuläre und antikommerzielle Gegenbewegung, entwickelten. Kristallisationspunkt war hier New York. Musiker wie Charlie Parker oder Dizzy Gillespie spielten rasend schnelle Passagen, die mitunter arg hektisch wirkten. Der Bebop gilt heute noch als Inbegriff der klassischen Moderne im Jazz.

Foto: Barbara Hauter (Kontrabass), Petra Spelzhaus (Trompete)

In den 1950er-Jahren entspannte sich die Musik bedeutend, der Cool Jazz wurde geboren. Obwohl Miles Davis und John Lewis neben Lennie Tristano zu den herausragenden Protagonisten des Cool Jazz zählten, galt er eher als Musik der Weißen. Deutlich „hotter“ wurde es in der gleichen Dekade durch afroamerikanische Musiker , die quasi als Gegenbewegung den Hard Bop entwickelten. Elemente des Bebop wurden übernommen und geglättet ohne Verluste der Intensität. Hinzu kamen Elemente aus Blues und Soul.

In den 1960er-Jahren wurde der Raum zur freien Tonalität oder gar Atonalität durchbrochen, Metrum, Beat und Symmetrie wurden aufgelöst. Ornette Coleman war einer Vorreiter des Free Jazz. Dieser wiederum half der Emanzipation des europäischen Jazz. Gab es bereits in früheren Jahren bereits ein New Orleans- und Dixieland-Revival, wurden die Jazzstile in den 1970er-Jahren vielfältiger. Die elektronische Musik in Form von Fusion beziehungsweise Jazzrock erhielt Einzug. Eine Ästhetisierung des Jazz mit Tendenz zur europäisch-romantischen Kammermusik wurde beobachtet. Eine neue Form des Free Jazz wurde etabliert, Swing und Bebop erlebten ein Comeback. Der europäische Jazz formte sich weiter aus und fand auch zu tonalen Spielweisen. Ein neuer Musikertyp mäanderte zwischen Jazz und Weltmusik.

Die 1970er- und 1980er-Jahre standen im Zeichen eines neuen Mainstream. In den folgenden Jahrzehnten stand das gesamte Spektrum der Jazztradition dem improvisierenden Musiker zur Verfügung. Traditionalisten standen neben progressiven Musikern, die die Musikelemente weiter demontierten, es wurde gemischt, zitiert, Sounds und Rhythmen aus aller Welt integriert.

Beim Stöbern durch die Jazzgeschichte überkam mich eine Wehmut. Welch brodelnde Entwicklungen haben die Zeitgenossen miterleben können! In dem Spannungsfeld zwischen der schwarzen und weißen Kultur,  durch Reibungen an der europäischen und später Weltmusik, an den bereits bestehenden Jazzstilistiken entstanden immer weitere Jazzstile. Eine neue Form der Musik entwickelte sich, um sich von der alten zu befreien und sie später wieder zu integrieren. Ich, die ich in den 1970er-Jahren geboren wurde, kann das leider nur noch in den Geschichtsbüchern, auf Tonträgern oder in Streamingdiensten nachvollziehen. Der heutige Jazz muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass er statt neuer Innovationen Verfeinerungen und Erweiterungen der alten Stile hervorbringt. Es wird aus einem großen Pool an Wissen geschöpft, Technik verfeinert, Stile werden fusioniert, die Musik aus aller Welt wächst zusammen. Aber wo bleibt die Revolution?

Wobei: Ein weltweites Virus zwingt uns zu völlig neuen Wegen. Am internationalen Tag der Jazzmusik erleben wir via Youtube, dass Musiker von allen Kontinenten – ein jeder von seinem Wohnzimmer aus – gemeinsam eine große globale Band bilden. Sie präsentieren im Kollektiv den Zuschauern aus aller Welt faszinierende Musikerlebnisse. Das wäre in der Form vor wenigen Monaten noch nicht denkbar gewesen. Man erlebt eine ähnliche Entwicklung auch in der klassischen Musik sowie in anderen Musikrichtungen. Nicht, dass man mich falsch versteht:

Ich bin und bleibe ein großer Fan der Livemusik. Ich freue mich riesig auf den Moment, wo die Theater und Konzertsäle ihre Tore wieder für Künstler und Zuhörer öffnen. Aber das, was im Moment an Kreativität entsteht, die digitale Vernetzung von Musikern und Zuhörern aus aller Welt, ist in der heutigen Zeit ein Geschenk und könnte auch in Zukunft eine Bereicherung unserer Kulturlandschaft bedeuten.

Dr. Petra Spelzhaus, 2. Mai 2020, für
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Spontan sprang Dr. Petra Spelzhaus bei der Jazzahead 2019 für eine erkrankte Kollegin ein und berichtete vom Partnerland Norwegen für klassik- begeistert.de . Weitere Beiträge als Autorin folgten. Schon früh entstand der Kontakt zur Musik. Kaum dass Petra sprechen konnte, kannte sie schon sämtliche Komponisten ihres Quartett-Kartenspiels auswendig. Sie versuchte sich seit ihrer Kindheit an diversen Instrumenten, bis sie als Jugendliche auf ihre große Liebe, die Trompete, traf. Nach zunächst klassisch ausgerichteter Ausbildung stieß die gebürtige Bremerin auf Jazz- und Weltmusik. Da war ihr klar: „Ich will musikalisch frei sein und improvisieren!“ Namhafte Professoren besaßen die Geduld und nahmen sich ihrer an. Die Erkenntnis reifte: Je leichter und freier Musik klingt, desto mehr Schweiß steckt dahinter. Getreu ihrem Motto „Life is Jazz“, möchte die ganzheitlich tätige Ärztin Auge und Ohr auf klassik-begeistert.de weiten und der Jazzmusik Gehör verschaffen. Dr. Petra Spelzhaus ist Fachärztin für Physikalische und Rehabilitative Medizin und Jazztrompeterin, sie lebt und arbeitet in München.

Dr. Petra Spelzhaus

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