Christian Thielemann, Staatskapelle Berlin | Konzert zum Jahreswechsel am 31. Dezember 2024 © Stephan Rabold
Ausgerechnet an dem Sonntag, der morgens die schlimme Botschaft brachte, dass die USA im Iran militärisch eingegriffen haben und die diplomatischen Bemühungen auch Deutschlands damit jedenfalls zunächst einen Dämpfer erfahren –
und ausgerechnet an diesem Sonntag auf diesem Bebelplatz, der durch die Bücherverbrennung noch unter dem Namen Opernplatz buchstäblich gebrandmarkt wurde –
ausgerechnet jetzt und hier versammeln sich Menschen, um das Friedlichste zu tun, was Menschen gemeinsam tun können: zuzuhören. Musik zuzuhören. Klassischer Musik zuzuhören. Brahms zu hören.
Staatsoper für alle
Christian Thielemann, Dirigent
Staatskapelle Berlin
Brahms, Symphonie Nr. 3 F-Dur op. 90
Brahms, Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68
Bebelplatz Berlin, 22. Juni 2025
von Sandra Grohmann
Es herrscht wie jeden Frühsommer Feststimmung auf dem Bebelplatz in Berlins Mitte: Obwohl schon um 12 Uhr eine Temperatur von 31 Grad Celsius im Schatten gemessen wird, die bald auf 35 Grad klettert, entscheiden sich tausende Menschen, sich das Live-Konzert der Staatskapelle nicht entgehen zu lassen. Die Schattenplätze hinter der Bühne, also auf den Stufen der Hedwigskathedrale und auf dem Bürgersteig vor dem Hotel de Rome, sind fast eine Stunde vor Konzertbeginn besetzt, die von der Staatsoper feilgebotenen Regenschirme, heute als Sonnenschirme genutzt, sind kurz darauf auch ausverkauft.
Das verdrießt aber niemanden. Die Leute kommen mit Kind und Kegel, Picknick, Sonnencreme, Hut, bunten eigenen Schirmen, Decken oder Stühlen fröhlich zusammen. Als Moderatorin plaudert Petra Gute vom rbb schon bald mit Solopauker Stefan Möller und Isa von Wedemeyer – Vorspielerin der Violoncelli – auf der Bühne und das Publikum erfährt, was die Hitze mit den Instrumenten macht. Die Celli werden sich verstimmen, lernen wir, aber die Pauken haben spezielle Felle erhalten, die die Stimmung besser halten.
Und warum erst Brahms’ Dritte und dann Brahms’ Erste? Möller, der damit kokettiert, dass er in der Musiktheorie nicht recht aufgepasst habe, meint, es liege vielleicht am optimistischen C-Dur-Schluss der Ersten. Auch Berlins neue Kultursenatorin, die finanzierende Automarke und vor allem Staatsopern-Intendantin Elisabeth Sobotka kommen zu Wort. Was das Beste an Brahms sei? Senatorin Wedl-Wilson, selbst Violinistin: Dass man in den großen melodischen Bögen schwelgen kann.
Wie wahr das ist, erleben wir in den folgenden zwei Stunden. Die beiden Symphonien halten alles bereit – Schmerz, Zärtlichkeit, Verzagen und Aufbruch. Der Liebeskummer des heute so geliebten Brahms ist stellenweise deutlich zu hören. Wie schön wäre es, wenn wir alle unseren Kummer in solche Musik gießen könnten!
Die Aufführung bietet jede Sekunde größten Hörgenuss. Thielemann und die Staatskapelle halten die Spannung ununterbrochen, atmen gemeinsam, finden sofort zusammen in den Brahms’schen Ton und musizieren überhaupt, wie es schöner nicht sein könnte. Die Tempi sind ausgewogen, die dynamischen Steigerungen fein aufgebaut; die Pianissimi scheinen vom glücklicherweise auffrischenden Wind zart über den Platz geweht, die Generalpause im vierten Satz der Ersten ist spannungsgeladen.
Unverkennbar arbeitet Thielemann Bezüge heraus – nicht nur die allseits bekannten der Ersten zu Beethoven, dessen übermächtiger Schatten Brahms so lange davon abhielt, selbst eine Symphonie zu schreiben. Sondern auch, faszinierenderweise, die der Dritten zu Wagner. Da bringen einen Brahms und diese wunderbare Kapelle und ihr neuer Generalmusikdirektor glatt gemeinsam ins Schwärmen.
Nicht dass wir etwas Anderes erwartet hätten von diesem Glücksfall einer musikalischen Zusammenarbeit. Aber neben der Musik treibt noch etwas Anderes nicht nur mir heute immer mal wieder die Tränen in die Augen: Ebenso bewegend ist, dass – wohl – um die 20.000 Menschen zusammengekommen sind, die der Musik gebannt lauschen. Ganz still ist es auf dem Platz, kaum jemand tuschelt oder checkt sein Handy. Ist es heiß? Knallt uns die Sonne auf die Köpfe? Ganz vergessen.
Schließlich das angekündigte C-Dur-Finale, das die Leute von den Picknickdecken und Klappstühlen reißt. Natürlich ruft das nach Standing Ovations. Denn Ja: Das ist der Optimismus, den wir uns so sehr wünschen, den wir wahrscheinlich dringend brauchen, um gelassen die Zukunft zu meistern.
Im Zentrum von Berlin und sicherlich auch an vielen Empfangsgeräten weltweit erfasst dieser Optimismus heute sehr viele Leute. Trotz allem. So ein Brahms, der lässt uns hören, wofür es sich zu leben lohnt.
Sandra Grohmann, 23. Juni 2026, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at