Simon Rattle schwingt nicht das Damoklesschwert, aber den Hammer!

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Sir Simon Rattle, Lester Lynch, Bariton  Kölner Philharmonie, 22. April 2024

Sir Simon Rattle © Astrid Ackermann

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks

Sir Simon Rattle, Dirigent
Lester Lynch, Bariton

Paul Hindemith – Rag Time (wohltemperiert) für großes Orchester

Alexander von Zemlinsky – Symphonische Gesänge op. 20 für Bariton (oder Alt) und Orchester. Texte aus „Afrika singt“, herausgegeben von Anna Nußbaum

Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 6 a-Moll „Tragische“ (zweite Fassung)

Kölner Philharmonie, 22. April 2024

von Daniel Janz

In letzter Zeit führt es den Chefdirigenten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks sowie ehemaligen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker häufiger nach Köln. Der aus Liverpool stammende Sir Simon Rattle (69) hat es sich dabei nicht nur zur Aufgabe gemacht, das Publikum mit herausragender Musik zu unterhalten. Seiner Werkauswahl scheint auch immer ein gewisser Bildungsaspekt zugrunde zu liegen. So jedenfalls lässt es sich deuten, dass er heute zwei eher selten zu hörende Stücke mit Mahlers atemberaubender sechsten Sinfonie kombiniert.

Das erste Werk kann man wohl unter dem Stichwort „Klamauk“ zusammenfassen. „Rag Time“ von Hindemith beginnt sehr wild und abwechslungsreich. Trotz schräger Klänge setzt sich zwar ein Hauptthema durch, das besonders durch die Trompete immer wieder heraussticht. Der Rest des Orchesters wird dafür aber mit an Karikaturen grenzenden Harmonien und viel Effektwerk beschäftigt. Das ist unglaublich anspruchsvoll und sicher auch anstrengend zu spielen – ein Sitznachbar des Rezensenten klärt sogar über die Anspielungen auf Bachs Fuge Nr. 2 in c-Moll auf. Den Rezensenten lässt dieses Werk allerdings leider komplett kalt. Lautstärke und provokative Harmonik alleine machen eben noch keine Empfindsamkeit aus. 

Ein ähnliches Spiel lässt sich bei den Symphonischen Gesängen von Alexander von Zemlinsky beobachten. In 6 Liedern werden hier Texte aus „Afrika singt“ von Anna Nußbaum sensibel und äußerst effektreich vertont. Den solistischen Part übernimmt Lester Lynch, der in seiner amerikanischen Heimat als begnadeter Stimmkünstler gilt.

Und die Aufgabe, der er sich stellt, ist keine leichte. Zur tristen Einleitung im ersten Gesang singt er mit viel Inbrunst, im zweiten performt er indes sehr gefasst, sodass man beim Zuhören und -sehen fast aus der Haut fährt. Anschließend singt er wie ein Wiegenlied zu schweren Trauermarschrhythmen, die teilweise eher wirken, als seien sie gegen den Sänger komponiert und nicht mit ihm. Ein großer Kontrast entsteht dann hin zum vierten Gesang, der sehr belebt, fast quirlig daherkommt und ihn mit schrillen Orchesterklängen zuzudecken droht. Zum fünften versprüht er wärmende Klänge und krönt das Ganze noch einmal mit einem Kraftakt im letzten Gesang.

Lester Lynch © lesterlynch.com/media

Lester Lynch und Orchester erhalten im Anschluss dafür Minuten langen, tosenden Beifall. Doch auch dieses Werk will beim Rezensenten nicht richtig zünden. Da ist einerseits die doch stellenweise unpassende Instrumentation, die – auch wenn heute fabelhaft gespielt und sehr fein von Sir Simon Rattle akzentuiert wurde – eher wirkt, als wäre sie Feind des Sängers. Und dann konnte man auch noch nahezu kein Wort verstehen. Ob das auch an dem suboptimal konzipierten Werk liegt oder doch an dem sehr weit seitlichen Sitzplatz des Rezensenten, kann allerdings nicht geklärt werden.

Der eigentliche Brocken kommt aber nach der Pause. Mahlers sechste Sinfonie kann wohl als eine einzige Enttäuschung bezeichnet werden. Nicht etwa, weil heute schlecht gespielt würde – nein, ganz im Gegenteil, das hat über weite Strecken Weltklasseniveau, an einigen Stellen sogar das Niveau einer Referenzaufnahme. Doch die Musik, die Mahler hier komponierte, spiegelt ein einziges, quälend lang gezogenes Enttäuschungserlebnis mit niederschmetterndem Schicksalsschlag dar.

Und meine Güte, gehen die Akteure heute ins Detail. Der erste Satz wird richtig daniedergestampft. Donnernd tosen die Kontrabässe mit Trommeln und Pauken durch diesen Marsch und krachen immer wieder mit dem Schicksalsrhythmus in Schlagzeug hervor. Das anschließende Andante gelingt so feinsinnig und sensibel, dass einem stellenweise die Tränen ins Auge stehen. Und auch das Scherzo im Anschluss gelingt wuchtig und stellenweise gar beschwingt lustig. Da kann man nur sagen: Ausdruck voll getroffen!

BRSO-Isarphilharmonie © Astrid Ackermann

Schade nur, dass Sir Simon Rattle sich hier für die Variante entscheidet, zuerst das Andante und im Anschluss das Scherzo zu spielen. Die umgekehrte Variante ist genauso üblich, existieren vom Komponisten doch uneindeutige Aussagen dazu. Zur heutigen Aufführung hätte die andere Reihenfolge vielleicht auch geholfen, an einigen Stellen etwas zu entschleunigen, denn mitunter im ersten Satz, sowie im Andante und in den ruhigen Stellen im Finale lässt Rattle ein wenig schnell spielen. Auch wenn das sonst weitestgehend überzeugt, so reicht es doch nicht an ein Konzerterlebnis dieses Werks unter Christoph Eschenbach heran. Und für den Rezensenten kann es nur eine richtige Reihenfolge geben: Scherzo vor Andante!

Aber solch persönliche Vorlieben nehmen einer alles in allem guten Aufführung nichts weg. Besonders herausragend gelingt dann auch das aufwühlende Finale in seinem vollauf dramatischen Kampf gegen das Schicksal. Hier bäumt sich immer wieder alles zum Höhepunkt auf, nur um am Ende brachial mit den in dieser Sinfonie gefürchteten Hammerschlägen niedergedroschen zu werden.

Klar könnte man auch hier ein paar Details bemängeln, wie das stellenweise zu leise Tamtam oder das nicht ganz prägnant herausgearbeitete Zittern der Celli zu Anfang des Satzes. Aber das sind Kleinigkeiten – „Nitpicking“ würde man im Englischen wohl sagen – im Vergleich zu den vielen Dingen, die gut gelingen:

Da sind u.a. die wahnsinnig engagierten Streicher, die von einem Höhepunkt zum anderen jagen. Feurig scharfe Stöße der Blechbläser – besonders Hörner und Trompeten fallen hier mit goldenem Klang auf. Die Holzbläser krönen die lyrischen Momente mit viel Charme und Lebendigkeit. Das Schlagzeug setzt gekonnt einen Akzent nach dem anderen. Harfen und Celesta untermalen mit wohlig himmlischen Klängen jede Szene, in der sie spielen dürfen. Und gekrönt wird das alles von Rattles meisterlichem Dirigat. Jeden Einsatz gibt er haargenau vor, obwohl er das gesamte Werk auswendig dirigiert. Deshalb steht am Ende auch völlig verdient der ganze Saal und feiert die Künstler mit lauten Jubelrufen und nicht enden wollendem Applaus.

Alexandra Forstner © Astrid Ackermann

Besonderes Lob gilt darüber hinaus der jungen Flötistin Alexandra Forstner. Völlig unvermittelt muss die Akademistin einspringen, als die erste Flöte mitten im ersten Satz wie von der Tarantel gestochen plötzlich von der Bühne stürmt – eine spontane Unpässlichkeit, wir später berichtet. In diesem Moment befürchtet der Rezensent bereits ein Drama. Doch das zuvor als fünfte Flöte nur fürs Finale vorgesehene Jungtalent übernimmt so souverän, als hätte es nie einen Wechsel gegeben. Wie von Anfang an gesetzt meistert sie die gesamte Sinfonie als Stimmführerin, wofür sie im Anschluss auch furios verdienten Sonderapplaus erhält. Was für eine tolle Leistung!

Somit bleibt das für alle Beteiligten eine denkwürdige Leistung und für manch eine Person sicher ein Abend, der nie wieder vergessen werden wird. Trotz einiger merkwürdiger Werke zu Beginn des Abends war es letztendlich ein wunderbares Konzerterlebnis, das man so gerne wiederholen mag. In dem Sinne kann man dieses Orchester und diesen Dirigenten wirklich empfehlen!

Daniel Janz, 23. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Sir Simon Rattle, Lester Lynch, Bariton Kölner Philharmonie, 22. April 2024

London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, Dirigent Kölner Philharmonie, 7. Dezember 2022

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