Bei Haydn und Pergolesi funkeln die Kerzen – Teodor Currentzis gastiert mit MusicAeterna in Wien

Teodor Currentzis, MusicAeterna, Nuria Rial, Paula Murrihy,  Wiener Konzerthaus

Foto © Olya Runyova
MusicAeterna
Teodor Currentzis Dirigent
Nuria Rial Sopran
Paula Murrihy Mezzosopran
Wiener Konzerthaus
Joseph Haydn, Instrumentalmusik über die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze Hob. XX/1 (1785)
Giovanni Battista Pergolesi, Stabat mater dolorosa (Stabat mater, 1736)

Von Antonia Tremmel-Scheinost

Wenn sich eines der gegenwärtig faszinierendsten Klassiktalente ankündigt, sind bleibende Eindrücke gewiss. Teodor Currentzis, Dirigent des Jahres 2016, hat mit seinem behutsam aufgebauten Originalklangensemble MusicAeterna zielstrebig eine Weltkarriere hingelegt. Der Exilant ist im russischen Perm, einer Millionenstadt am östlichsten Rande Europas, ansässig und momentan en vogue wie kaum ein anderer. Als entsprechend sensationell entpuppte sich auch dieser Samstagabend im Wiener Konzerthaus.

Joseph Haydn hatte es sich mit der 1786 in Auftrag gegebenen Komposition über „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ zum Ziel gemacht, auch „dem Unerfahrensten den tiefsten Eindruck in seiner Seele zu erwecken“. Was passiert also, wenn sich Currentzis – seines Zeichens feuriges Enfant terrible und radikaler Erneuerer – an diese so selten gespielte Meditationsmusik macht? Es bescherte der Hörerschaft einen absoluten Höhepunkt dieser Konzertsaison.

Andächtig und in bodenlangem Habit betrat das Ensemble MusicAeterna die nahezu stockdunkle Bühne. Der Große Saal des Wiener Konzerthauses war nur von einigen Kerzen und einem schwachen Lichtkranz am Kuppelplafond erhellt. Zu dieser unwirklichen Szenerie gesellte sich flink der in Springerstiefeln mit roten Schnürsenkeln tänzelnde, dandyhafte Maestro, um noch während des aufbrandenden Applauses den Einsatz zu geben.

Was folgte war ein feinfühliges, geschmeidiges Einläuten der Karwoche, fast schon ans Mystische grenzend. Der 1972 in Athen geborene Grieche mit russischem Pass dirigierte sanfter, seine übliche wilde Zappelei war an diesem Palmsamstag um eine Nuance reduzierter, ganz im Gegensatz zu seinen Atemgeräuschen. Zwar war die Effekthascherei nach wie vor allgegenwärtig, doch man kann es ihm schwer übel nehmen. Jeder sorgsam inszenierte Schritt schien seine Berechtigung zu haben. Es gelang Currentzis, sein im Stehen spielendes Orchester mit ganzem Körpereinsatz zu befeuern und das Publikum mit auf die Reise durch Haydns bewegenden Passionszyklus zu nehmen.

Ursprünglich schrieb Joseph Haydn – 1732 in Niederösterreich geboren und als Kapellmeister der ungarischen Magnatenfamilie Esterhazy zu Ruhm gekommen – das Werk als instrumentale Auftragskomposition für einen spanischen Marqués und Domherren. Auf dessen Wunsch hallten die „Sieben letzten Worte“ des berühmtesten Komponisten jener Zeit am Karfreitag 1787 durch die unterirdische Höhlenkirche von Santa Cueva.

Die vor genau 230 Jahren erstmalig erklungene „langsame Musik der Kontemplation“ schwebte am Palmsamstag von einer nahezu intimen Religiosität getragen durch den Saal. Anhaltende Dunkelheit beflügelte Sinne und Phantasie – manch einer wähnte sich in jener schwarz verhängten Krypta, die Schauplatz der Uraufführung war. Zog nicht womöglich auch eine Spur Weihrauch durch das Konzerthaus?

Currentzis hatte es also richtig angelegt, denn ein Hauch von Spiritualität ist für das Verständnis dieser Musik im Grunde unabdingbar. Unter seinem Dirigat deckten die sieben Adagios bis hin zum finalen Erdbeben präzise alle emotionalen Facetten ab. Auf die feierlich-dramatische Introduktion folgte die innige Sonata I („Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun), gestützt durch das vorzügliche, transparente Spiel des Konzertmeisters Afanasy Chupin.

Im zweiten Thema der Sonata II in Es-Dur ließ sich der vorweggenommene Ansatz der österreichischen Kaiserhymne „Gott erhalte Franz den Kaiser“ von 1797 ausfindig machen. In Sonata IV, dem Herzstück des Dramas, dann der Schreckmoment: Einem der Kontrabassisten entglitt sein Instrument, und das Krachen des Stachels auf dem Parkett war im ganzen Saal zu hören. Ein bitterböser Blick vom Maestro und Verunsicherung seitens der Streicher folgten. Obwohl die Bässe einige Takte unangenehm kratzig und knackend zu hören waren, tat es der Klangmalerei kaum Abbruch. Durch unorthodoxe Phrasierungen und akzentuierte Kontraste ließ das Weltklasseensemble die Andachtsmusik von Innen heraus leuchten.

„Es ist vollbracht” – Das Sterbewort aus dem Johannesevangelium leitete die wehmütigste aller Sonaten ein. Currentzis ließ MusicAeterna durch geschmackvoll eingesetzten Pathos eine betörende Klangaura schaffen.

Durch die bereits jenseitige Sonata VII („Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“) und das ungeheuerlich ergreifende, alle Formen sprengende Erdbeben löste sich über 65 Minuten angesammelte Spannung in tosenden Applaus auf.

Die ergreifende Interpretation des Ausnahmedirigenten zeichnete sich durch expressive Dynamik wie grazile Transparenz aus. Eine zusätzliche seelische Dimension hatte seine Werkauswahl erhalten, als Currentzis im vorausgegangenem Fernsehinterview preisgab, dass er inmitten einer palmsonntäglichen Probe der „Sieben letzten Worte“ die Todesnachricht seines Vaters erhalten hatte, diese aber nicht abbrach: „Haydns Musik ist voller Spiritualität und sie drückt all die komplizierten Gefühle aus, die man im Angesicht des Todes hat.“

Im zweiten Teil des Abends erweiterten der spanische Soprano Nuria Rial und die irische Mezzosporanistin Paula Murrihy das 2004 im russischen Nowosibirsk gegründete Originalklangorchester. Dramaturgisch geschickt arrangiert, stimmte das Ensemble weihevoll Giovanni Battista Pergolesis letzte und bekannteste Komposition „Stabat Mater“ aus dem Jahre 1736 an.

Das einleitende Duett des mit nur 26 Jahren verstorbenen Pergolesi, bezeichnete der französische Schriftsteller, Philosoph, Pädagoge, Naturforscher und Komponist Jean-Jacques Rousseau einst als „das Volkommenste und Rührendste“. Der vertonte Schmerz Marias unterm Kreuz Jesu besticht durch herzergreifende Schlichtheit und ist ein beeindruckendes Zeugnis der Vergänglichkeit.

Currentzis hat auch zu diesem Oeuvre einen sehr persönlichen Zugang – den erstmaligen Vergleich zweier „Stabat mater“-Versionen in früher Jugend bezeichnete er als ein richtungweisendes Schlüsselerlebnis. Am Palmsamstag führte er leidenschaftlich wie präzise durch dieses viel gespielte Werk des „angelico maestro“. Sein räumliches Licht und Schattenspiel fand sich auch in der Musik wieder: Die subtile Folge von sieben Duetten und fünf Arien offenbarte mal tiefste Trauer, mal seelenvolle Innigkeit. Besonders die Katalanin Nuria Rial intonierte klar und sensibel, wusste ihren hellen Sopran perfekt einzusetzen. Die Debütantin Paula Murrihy fiel im Vergleich ein wenig zurück, zumal sie besonders in den tieferen Lagen recht dünn wirkte. Dennoch passten die zwei Sängerinnen hervorragend zu MusicAeterna und zueinander. Als Höhepunkt erklang das Duett „Quis est homo“ – Soprano und Mezzo verschmolzen in nahezu überirdischer Manier.

Obwohl die Darbietung nicht an Referenzaufnahmen wie jene von Claudio Abbado mit Margaret Marshall und Lucia Valentini Terrani heranreichte, war sie optisch wie klanglich wie ein wahrer Hochgenuss.

Wunderbar war auch die durchgehend konzentrierte Stille im Publikum – keine einzige elektronische Apparatur piepte oder läutete, ein Seltenheitswert!

Am Ende des Abends hagelte es für den Ekstatiker samt Gefolge Begeisterungsstürme und Blumenschauer. Die Semana Santa, die heilige Woche von Palmsonntag bis Ostersonntag, mit ihrem Gedächtnis an Leiden, Tod und Auferstehung hätte man kaum schöner eröffnen und zelebrieren können.

Nach dem Konzert darauf angesprochen wie es um seine Mission stehe, die klassische Musik zu retten, sagte Currentzis zu klassik-begeistert.at: „Das liegt in Ihrem Ermessen. Ich kann zum Glück ehrliche und gütige Menschen, die ihr Leben dieser Aufgabe widmen, meine Freunde nennen. Nur wer wirklich dem Geist der Musik dient, ohne an Geld oder Ruhm zu denken, wird Schönheit und Wahrheit finden.“ Abschließend raunte er noch mit einer baritonal-weichen Stimme, sein Ideal wäre ein Zusammenleben mit Gleichgesinnten (wie MusicAeterna) in einem Kloster oder Dörfchen.

Mit Spannung erwartet die Klassikwelt jedenfalls Currentzis’ Debüt bei den Salzburger Festspielen mit Wolfgang Amadeus Mozarts „La Clemenza Di Tito“ im Sommer. Glücklicherweise bleibt uns der Maestro auch in der kommenden Konzerthaussaison mit einem schillernden Porträtzyklus erhalten. Es erwartet die Zuschauer ein progressives Konglomerat aus Barock und Moderne – Überraschungen sind wie immer nicht ausgeschlossen.

Antonia Tremmel-Scheinost, 9. April 2017 für
klassik-begeistert.at

 

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