Ton Koopman Foto:© Hans Morren
Lübeck, Dom, 19. Juli 2019
Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF)
Elisabeth Breuer, Sopran
Maarten Engeltjes, Countertenor
Tilman Lichdi, Tenor
William Knight, Tenor
Klaus Mertens, Bass
Andreas Wolf, Bass
Amsterdam Baroque Orchestra & Choir
Ton Koopman, Dirigent
Johann Sebastian Bach:
Kantate „Unser Mund sei voll Lachens“ BWV 110
Kantate „Herr Jesu Christ, wahr’ Mensch und Gott“ BWV 127
Kantate „Geschwinde, ihr wirbelnden Winde“ BWV 201
von Guido Marquardt
Ton Koopman zeigt an diesem Abend im Lübecker Dom, zu welcher großen Reife seine langjährige Beschäftigung mit Bachs Kantaten in der Aufführungspraxis geführt hat. Vor allem aber stellt er unter Beweis, dass Erfahrung und Routine keinesfalls in Langeweile münden müssen. Inspiriert, energetisch und mitreißend agierten Chor, Orchester und Solisten – und ihr Leiter ging mit bestem Beispiel voran.
Vollkommen undenkbar, dass ein SHMF Johann Sebastian Bachs Werke in den Mittelpunkt seines Jahresprogramms stellt, ohne dass Ton Koopmann sich die Ehre gibt. Der mittlerweile fast 75 Jahre alte Niederländer gehört zu denen, die maßgeblich die historisch informierte Aufführungspraxis etabliert haben. Seit Jahrzehnten macht er sich um die Barockmusik verdient, und hier insbesondere mit Blick auf Bach. Gleich acht Mal trat er im Rahmen des diesjährigen SHMF auf. Ja, die Vergangenheitsform ist korrekt, denn sein Auftritt an diesem sonnigen Freitag im Lübecker Dom war bereits der letzte in der Reihe. Zum dritten Mal (nach Rendsburg und Lüneburg) erklangen drei Kantaten von Bach – zwei religiöse und eine weltliche.
„Unser Mund sei voll Lachens“ macht den Anfang, ein Werk für den 1. Weihnachtstag und entsprechend prunkvoll und festlich, insbesondere beim Eingangschor, den Bach auf Basis der Ouvertüre seiner Orchestersuite Nr. 4 erarbeitet hat. Zahlreiche Bibelzitate werden in dieser Kantate verwendet, am bekanntesten darunter sicherlich „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“. Diese Passage aus dem Lukasevangelium wird in der Kantate von Sopran und Tenor im Duett dargeboten.
Die Kantate BWV 127, im gleichen Jahr (1725) uraufgeführt wie das vorangegangene Werk, ist ähnlich reichhaltig angelegt. Es war für den Sonntag Estomihi gedacht, der als letzter Sonntag vor der Fastenzeit auch unmittelbar vor einer Zeit der kantatenlosen Gottesdienste stand. So mag sich erklären, dass hier quasi noch mal „ordentlich aufgefahren“ wurde; gleich zu Beginn wird der vierstimmige Chor umfassend instrumental begleitet. Inhaltlich steht die Passionsgeschichte im Mittelpunkt und die daran geknüpfte Erwartung der Gläubigen, im Tod auch Erlösung zu finden. Basis ist ein Sterbelied aus dem 16. Jahrhundert. In der Sopran-Arie heißt es etwa, „Ich bin zum Sterben unerschrocken, weil mich mein Jesus wieder weckt.“
Ganz anders dann die fast einstündige Kantate mit dem bekannten gleichnamigen Eingangschor „Geschwinde, ihr wirbelnden Winde“. 1729 entstanden, war sie weder eine kirchliche noch eine höfische Kantate, sondern tatsächlich eine bürgerliche und eine für Bach ganz persönlich hoch relevante Beschäftigung mit der Auseinandersetzung zwischen Kunstmusik und Unterhaltungsmusik. Als Folie dient hierbei ein Sangeswettstreit zwischen Phoebus-Apollo und Pan aus Ovids Metamorphosen. Natürlich mit dem besseren Ende für den Kunstsänger Phoebus – und erheblichem Spott für den von Pan auserkorenen „Paten“ Midas, den eigentlichen Verlierer dieses Streits. Musikalisch erliegt Bach hier nicht der Versuchung, Pan musikalisch allzu banal darzustellen, seine Arie „Zu Tanze, zu Sprunge, so wackelt das Herz“ ist durchaus kunstvoll und mitreißend gestaltet.
Unter Ton Koopmans engagierter Leitung liefern Chor und Orchester eine fabelhafte Leistung ab. Der festlich-prängende Charakter von BWV 110 wird ebenso überzeugend transportiert wie die Dringlichkeit der Passionserzählung in BWV 127 und der zugleich ernsthafte wie humorvolle Disput in BWV 201.
Gleich im ersten Chor befinden sich einige knifflige Übergänge, die schön ausgestaltet werden. Sehr reich und voll im Klangbild ist der polyphone Chor zu Beginn der zweiten Kantate, und auch in der letzten Kantate geht der Eröffnungschor direkt mit viel Volumen zur Sache (das Tempo ist dabei überraschend niedrig) und gestaltet insbesondere die Zeilen „Dass das Hin- und Widerschallen selbst dem Echo mag gefallen und den Lüften lieblich sein“ wunderbar plastisch und differenziert.
Im Orchester setzten die Celli immer wieder schöne Akzente mit einem warm grundierten Ton, hier fiel besonders die luftige Begleitung der Momus-Arie „Patron, das macht der Wind“ auf. Auch der Oboe gehören einige große Momente, so vor allem in der Sopran-Arie „Die Seele ruht in Jesu Händen“. Ein Sonderlob gebührt den Blechblasinstrumenten. Ob nun festlich schmetternd oder in Ankündigung des jüngsten Gerichts („Wenn einstens die Posaunen schallen“) – in den jeweils unterschiedlichen Konfigurationen der Barockinstrumente war an diesem Abend höchste Handwerkskunst gefragt, bravo! Doch man möchte hier eigentlich niemanden auslassen; allein schon die kunstvoll ge- und verwobenen Klangteppiche von Flöten und Streichern entzücken ein ums andere Mal.
Elisabeth Breuer, die als Ersatz für die erkrankte Christina Landshamer die Sopran-Partien übernahm, sang sehr direkt und schnörkellos. Die bereits erwähnte Arie „Die Seele ruht …“ brachte neben aller Klarheit ihrer Stimme auch etwas dunkel Schimmerndes mit hinzu, mehr Kraft entfaltete Breuer allerdings in den höheren Lagen.
Maarten Engeltjes brachte seine Countertenor-Einsätze mit viel Routine souverän über die Bühne. Sein Stimmtypus ist nicht besonders lyrisch, eher sehr direkt und bisweilen etwas schmal. Tilman Lichdis Tenor-Auftritte wirkten gerade im ersten Teil voll und plastisch. William Knight, der nur in der letzten Kantate als Midas in Erscheinung trat, konnte da (noch) nicht ganz mithalten. Seiner Stimme fehlte etwas Strahlkraft und seine deutsche Aussprache war hier und da nicht ganz sauber. Dass dies überhaupt auffiel, lag aber auch an der ansonsten durchgängig sehr hohen Textverständlichkeit und klaren Artikulation aller Solisten.
Klaus Mertens ist ein sehr erfahrener Bass, den bereits eine langsame gemeinsame Geschichte mit Ton Koopman verbindet. Ohne Zweifel hat er sein Material tief durchdrungen und weiß ganz genau, was er tut. Seinen größten Auftritt hat er an diesem Abend als Phoebus. Einige Melismen geraten ihm vorzüglich, sein Duktus ist schlank und beinahe weich aber auch ein bisschen intellektuell-distanziert und zwischendurch ist auch mal ein kleiner Veratmer dabei.
Andreas Wolfs Bass ist volltönend, mächtig und klangschön. Sehr eindrucksvoll, wie er in der Arie „Wacht auf, ihr Adern und ihr Glieder“ auch bei der durchaus nicht leisen Orchesterbegleitung noch gut durchdringt. In der großen Arie des Pan lässt er seiner Spielfreude vollen Lauf und zeigt viele Varianten in den Verzierungen. Wäre es an diesem Abend um einen Wettstreit der beiden Bass-Sänger gegangen – Pan hätte womöglich den Sieg davongetragen.
Es ist sehr bemerkenswert, mit welcher Vitalität und Freude Ton Koopman immer noch für die (Barock-)Musik unterwegs ist. Mögen noch viele solcher Auftritte folgen. Oder, um es mit dem Schlusschor aus BWV 201 zu sagen: „Stimmet Kunst und Anmut an! … Sind doch euren süßen Tönen selbst die Götter zugetan.“
Guido Marquardt, 21. Juli 2019, für
klassik-begeistert.de