Turandot © Wiener Staatsoper / Monika Rittershaus
Einen Unfug sondergleichen hat Claus Guth in Wien auf die Bühne gestellt. Die Regie: Beim Publikum eindeutig durchgefallen. Anders kann man es nicht deuten, dass nach rund drei Stunden so viele ihrem Unmut lautstark freien Lauf lassen. Ein derartiger Buh-Orkan weht dem Regieteam selbst im konservativen Wien nur selten entgegen. Zum Glück retten einige „Jahrhundertstimmen“, wie manch ein Operngänger lobt, die medial hochgepushte „Turandot“-Neuproduktion an der Wiener Staatsoper.
Turandot, Giacomo Puccini
Wiener Staatsoper, 7. Dezember 2023 (Premiere)
von Jürgen Pathy
Die Geschichte von Puccinis letzter Oper ist eigentlich recht simpel. Die chinesische Prinzessin Turandot lässt einen Freier nach dem anderen abschlachten. Denn keiner kann die von ihr gestellten Rätsel lösen. Nur Prinz Calàf, der ihr nach dem ersten Anblick völlig erliegt, schafft es. „Turandot, Turandot, Turandot…“, ruft er hunderte Male. Sie hat ihm den Kopf verdreht. Nur zu ihr will er. Dass die verletzte Seele das mit allen Mitteln verhindern will, liegt an ihrer Vergangenheit. Ihre Ahnin hat man einst vergewaltigt. Dafür lässt sie nun alle Männer büßen. Eine „Märchenoper“, die man in der Regel gerne mit viel opulentem „China-Kitsch“ und Massenszenen ausstattet. Sklaven, die man über die Bühne peitscht inklusive.
Freud’sche Couch statt Opulenz
Claus Guth gibt sich mit einer so banalen Deutung natürlich nicht zufrieden. Hinter Sigmund Freuds Ordinationstüre versperrt der deutsche Regisseur die Titelfigur, die in seiner Inszenierung keine mörderische Eisprinzessin ist, sondern eine traumatisierte, junge Frau, die niemanden an sich heranlässt. Die Psychoanalyse schafft keine Klarheit, ebenso wenig der Versuch, dieses verstrickte Psychogramm auf der leergeräumten weißen Bühne zu entschlüsseln. Die „schmücken“ nur graue Spinde, durch die eine Flut an rothaarigen Männern in mintgrünen Anzügen die Bühne betreten und verlassen. Köpfe rollen oft nur symbolisch. Auf dem Tisch des Henkers landet ein Kürbis, den er mit einem Samuraischwert spaltet. Wer bei diesem Anblick nach zwanzig Minuten noch immer nicht das Handtuch wirft, ist selber schuld. Es gibt genügend andere Lichtblicke, denen man sich zuwenden kann.
Im Graben peitscht Marco Armiliato, der wie immer ohne Partitur dirigiert, riesige Klangwolken durch das Haus. Von Puccini schwärmt der feurige Italiener in den höchsten Tönen. „Er konnte alles, die größten Hits schreiben, große Massenszenen, große Instrumentierungen und in der gleichen Oper sehr intime Szenen schaffen“. Dass dabei natürlich alle auf „Nessun dorma“, die große Arie des Calàf spitzen, muss man nicht erwähnen. Das Haus ist voll. Neben Politprominenz, Ex-Staatsoperndirektor Ioan Holender und Ö3-Sexualtherapeutin Gerti Senger, ist auch der Stehplatz bis an den Rand gefüllt. Eigentlich hatte sie immer Sitzplatzkarten, aber dieses Mal sei alles hoffnungslos ausverkauft gewesen, wundert sich eine Frau über die Qualität des Galerie-Stehplatzes. „Man sieht von hier oben mehr als ich gedacht hätte“.
Jonas Kaufmann verkauft sich anständig
Das Zugpferd der Produktion erspäht sie durch ihren Operngucker: Jonas Kaufmann, der sich im Vorfeld weit aus dem Fenster gelehnt hat. Koketterie und Zurückhaltung waren seine Sache noch nie. An der Wiener Staatsoper wagt der polarisierende Startenor sein szenisches Debüt als Calàf, der bei Claus Guth nicht auf einen riesigen Gong schlägt. Das Zeichen, dass der Prinz bereit ist, sich den drei Rätseln zu stellen. Bei Guth klopft er an eine Holztür, kriecht zu Beginn aus einem Loch im Boden und irrt durch ein minimalistisches Bühnenbild, in dem sich die Szenerie hauptsächlich auf das vordere Drittel der Bühne konzentriert – eine weiße Wand oft inklusive. Handwerklich eine gute Lösung, um den Stimmen viel Reflexion zu bieten, damit sie direkt in den Saal prallen können. Nur beim „Nessun dorma“ verlässt Guth sein Geschick.
Das hat Jonas Kaufmann aus dem hinteren Drittel zu singen. Dessen Stimme hat wieder mehr Kraft. Der alte Glanz ist fast wieder zurück. Seit geraumer Zeit wirkt es, als erlebe Jonas Kaufmann seinen zweiten Frühling.
Nach mehreren Stimmproblemen, an denen Kaufmann schon länger laboriert, hat man den gebürtigen Münchner nun öfter in blendender Form erlebt. Vor kurzem hat er als Otello brilliert, für manche reicht seine Durchschlagskraft dennoch nicht aus. „Er ist zu leise“, rücken manche diesen Mangel in den Vordergrund. Entgegen vieler Erwartungen liefert Kaufmann aber mehr als solide ab. Mit unverwechselbarem Timbre und jugendlicher Frische präsentiert sich Kaufmann von seiner Zuckerseite. Dass er das Ende der Parade-Arie ein wenig als Mogelpartie verkauft, könnte man auch dem gewaltig aufspielenden Staatsopernorchester in die Schuhe schieben. An die Wand singen ihn die Damen allerdings nicht.
Zwei Weltklasse-Stimmen auf Augenhöhe
Asmik Grigorian und Kristina Mkhitaryan liefern sich ein Duell auf allerhöchstem Niveau. Die Litauerin Grigorian als Prinzessin Turandot, mit der sie an ihre Glanzleistung als Salome anschließen kann. 2018 ist ihr mit der intensiven Darstellung der geschändeten jungen Frau bei den Salzburger Festspielen der Durchbruch gelungen. Beim Wiener Publikum hat die russische Sopranistin Kristina Mkhitaryan aber knapp die Nase vorne. Ihre Stimme ist dunkler, genauso wie ihr schwarzes Kleid, in dem sie als Liù eine größere Palette an Farben durchschimmern lässt.
Grigorian hingegen ist die „Drama-Queen“, ein stimmgewaltiger Orkan, der mit geballter Ladung im weißen Kleid einfach alles aus dem Wege räumt. Freier, Henker und auch ihre Angst, sich einer Liebe zu ergeben. In dieser Form ist Grigorian sicherlich eine Sängerin, deretwegen man sich um Karten reißen sollte. Wie oft hat man ihr vokales Ableben schon vorausgesagt, mit 20 bereits – jetzt, mit 42 hat sie ihren gleißend hellen Sopran mal wieder am Himmel zementiert.
Der bestens disponierte Wiener Staatsopernchor feiert das zum Ende; das Publikum die drei Hauptdarsteller in absteigender Reihenfolge: Mkhitaryan, Grigorian und als Schlusslicht Kaufmann – zwei, drei Buhs inklusive.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 8. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Giuseppe Verdi, La Traviata, Kristina Mkhitaryan, Pavol Breslik, Bayerische Staatsoper
Richard Strauss, Salome, Asmik Grigorian, Kent Nagano Staatsoper Hamburg, 29. Oktober 2023
Giuseppe Verdi, Otello, Jonas Kaufmann, Ludovic Tézier Wiener Staatsoper, 3. November 2023
Geschätzter Kollege Pathy!
Das Originalmärchen des persischen Dichters Nizami geht auf die Psyche der Prinzessin nicht ein. Das moderne Regietheater geht den gleichen Weg wie die haggadische Midraschliteratur, die Antworten auf das Unerörterte und auf offene Fragen der Hebräischen Bibel im Weiterspinnen der Erzählung sucht. Der Literaturwissenschafter Elliott Rabin spricht von einer Emmentalerstruktur der ursprünglichen Erzählungen.
Lothar Schweitzer