Manchmal entscheidet der Teufel im Detail zwischen gut und hervorragend

WDR Sinfonieorchester, Andris Poga, Dirigent, Bertrand Chamayou, Instrument  Kölner Philharmonie, 24. Mai 2024

Bertrand Chamayou © harrisonparrot.com

WDR Sinfonieorchester
Andris Poga,
Dirigent
Bertrand Chamayou,
Instrument

Lili Boulanger – D’un matin de printemps für Orchester
Alexander Skrjabin – Konzert für Klavier und Orchester fis-Moll op. 20
Dimitrij Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 8 c-Moll op. 65

Kölner Philharmonie, 24. Mai 2024

Von Daniel Janz

Zugegeben, Boulanger, Skrjabin und Schostakowitsch sind keine einfach zu spielenden Komponisten. Obwohl zeitlich nah beieinander, verlangen ihre recht unterschiedlichen Kompositionsstile auch unterschiedliche Ansätze. Der Blick fürs Detail unterscheidet dann oft über Gelingen oder Missraten einer Aufführung… oder irgendetwas dazwischen. Es grenzt also an eine Wissenschaft, bei so einem Programm eine abgewogene Mischung zu finden. Wie gelungen war die Mischung am Freitagabend?
Das erste Werk des Abends stammt von der zu Unrecht unterschätzten Lili Boulanger, die 1918 schwerkrank und viel zu jung verstarb. Inzwischen klingt ihre Musik öfter – so durfte der Rezensent bereits im April ihr „D’un matin de printemps“ unter dem London Symphony Orchestra miterleben.

Und im Kontrast zur Aufführung damals wirkt der Ansatz von Dirigent Andris Poga (43) aus Riga heute doch anders. Während die Londoner Wert auf einen sensiblen Gesamtklang legten, arbeitet Poga die Motive plastischer heraus. In der Folge fällt ein Hauptthema auf, das diese Komposition bestimmt. Das vermeintliche Fehlen von Sensibilität macht diese Klarheit wieder weg. Spannend, wie unterschiedlich man ein und dasselbe Werk hören kann!

Andris Poga © Marc Ginot

Auch Skrjabins einziges Klavierkonzert ist ein hoch empfindsames, wirkungsvolles Werk mit spannenden Orchesterfarben und ergreifenden solistischen Partien. Und auch hier zeigt sich die Stärke von Pogas Fokus auf motivische Klarheit. Golden brechen im ersten Satz die Soli im Horn hervor, das hier wie ein über alles wachender Vater mitgestaltet und dafür sogar Zwischenapplaus einheimst. Auch die Streicher im zweiten Satz dürfen vor sich hinschmachten. Und Klarinette und Fagott berühren mit ihren Einwürfen. Was da vom Orchester kommt, kann über weite Stellen überzeugen.

Den überaus anspruchsvollen Solopart am Klavier darf Bertrand Chamayou (43) aus Frankreich absolvieren. Dessen Leistung lässt sich als gut aber nicht herausragend bezeichnen. Technisch tadellos wirkt sein Spiel weitestgehend routiniert, als würde er das Werk lediglich aus dem Gedächtnis abrattern. Gerade auch das Schwärmerische in Skrjabins Musik lässt sich dadurch live oft nur erahnen. Der tollen Leistung des Orchesters steht das Stück weit entgegen. Ergriffenheit oder Gänsehaut stellen sich beim Rezensenten trotz dieser reich komponierten Musik jedenfalls nicht ein. Das hätte noch mehr Potenzial verlangt. Ein Eindruck, der sich auch nicht ändert, als Chamayou noch eine Zugabe von Ravel spielt. Da fehlte leider das Einfühlsame.

Bertrand Chamayou © Marco Borggreve

Schostakowitschs achte Sinfonie wirkt wiederum wie ein Mahnmal an weltpolitisches Geschehen. 1943 komponiert sollte sie als Triumphzug des Sozialismus gegen den Faschismus in die Annalen der Geschichte eingehen. Stattdessen demaskierte sie die Gewalt des eigenen Regimes: Eine Botschaft, die heute aktueller denn je ist. Der erste Satz gelingt mit Abstrichen gut. So hätte das quälend zaudernde Klagen der den Satz beginnenden Streicherserenade noch spannungsreicher herausgearbeitet werden können. Und auch das den Abschluss einleitende Englischhornsolo will beim Rezensenten nicht recht zünden. Da fehlte es an der Nuancierung der einzelnen Töne. Dennoch; der kaskadenartige Ausbruch von Krieg, Gewalt und Terror überzeugt.

Hinter den Erwartungen ein wenig zurück bleiben auch der zweite und der vierte Satz. Einerseits sind sie schwächer komponiert, andererseits wählt Poga den Einstieg in den zweiten Satz zu schleppend. Folge: Das karikativ Groteske dieses gestampften Walzers setzt sich erst spät durch. Bei der nachdenklichen Passacaglia in Satz 4 passt das Tempo besser – leider aber wird der komplette Satz von einem Gast verhustet. „Was soll ich denn machen – mich erschießen?“, hört der Rezensent die leidgeplagte Person klagen, als Sitznachbarn sie nach Minuten langem Röcheln ansprechen. Ein anderer Gast reicht schließlich Hustenbonbons, wie sie früher immer an den Garderoben auslagen. Warum hat die Kölner Philharmonie eigentlich zugelassen, dass Ricola die Kooperation aufkündigt und sich um keinen Ersatz bemüht?

Das Orchester begeistert vor allem im dritten Satz. Hier sind Tempo und Lautstärke endlich ausgewogen. Das feurige Rasen der Streicher oder das schneidende Solo der Trompete zur Mitte des Satzes stechen klar hervor. Und als es sich auch hier zu einer zerstörerischen Eruption aufbäumt, kann man zurecht vom Höhepunkt sprechen.

Auch im letzten Satz zeichnet sich eine Steigerung ab. Schostakowitsch lässt strahlend in Dur beginnen. Ein technischer Kniff nach dem anderen folgt und baut so einem Finale vor, das doch nie kommt. Stattdessen entfremden sich die Stimmen durch ständige Verwischung der Harmonien immer mehr, bis nur tosendes Donnern übrigbleibt, das ins Fanfarenmotiv des ersten Satzes zurückführt. Die Botschaft ist klar: Trotz einer Stunde Musik, Kampf und Entwicklung ist nichts erreicht, das Böse triumphiert, egal welche Seite siegt! Leise und fahl klingt die Sinfonie in ein mattes Motiv der Kontrabässe aus, die die hoffnungsleeren Klänge der Flöte untermalen.

WDR Sinfonieorchester © Tillmann Franzen

Was zur Uraufführung der Sinfonie noch zu viel Kritik und wenige Jahre später sogar zu Aufführungsverbot des Komponisten führte, kann heute aber zünden. Nach einer quälend langen Schlusspause ist das Publikum nicht mehr zu halten und feiert das Orchester in nicht enden wollendem Applaus. Viele erheben sich und zollen den heute überragenden Fagotten, Trompeten und Hörnern, sowie dem wieder fabelhaft agierendem Schlagwerk Tribut. Alles in allem haben sie hier eine solide Mischung präsentiert, in der manche Aspekte noch ausbaufähig gewesen wären.

Das Konzert kann online noch bis Weihnachten 2024 unter folgendem Link nachgehört werden:
https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-konzert/konzertplayer-festival-klangfarben-100.html

Daniel Janz, 26. Mai 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Sir Simon Rattle, Lester Lynch, Bariton Kölner Philharmonie, 22. April 2024

Gürzenich-Orchester Köln, Elim Chan, Dirigent, Benjamin Grosvenor, Klavier Kölner Philharmonie, 16. April 2024

Richard Wagner, Die Walküre, Oper in drei Aufzügen, konzertante Aufführung Kölner Philharmonie, 24. März 2024

Ein Gedanke zu „WDR Sinfonieorchester, Andris Poga, Dirigent, Bertrand Chamayou, Instrument
Kölner Philharmonie, 24. Mai 2024“

  1. Das kleine fast 7-minütige Werk von Lili Boulanger über einen Morgen im Frühling ist auch Bestandteil der sehr hörenswerten Doppel-CD „Aux Étoiles“ des venezianischen Labels Palazzetto Bru Zane mit sinfonischen Dichtungen französischer Herkunft. Lili Boulangers Werk verzaubert mit dem, was ich jetzt im Mai noch auf dem Balkon erlebe: Vogelgezwitscher, Insektenkrabbelei und auch mal einen windigen Regenschauer. Vielleicht sind es Eindrücke der Komponistin aus ihrem letzten Frühlingserleben im Jahre 1917, ein Jahr später im März ist sie gestorben, wie das umfangreiche, auch deutschsprachige Booklet erzählt. – Ich danke Herrn Janz für den Tipp, das Werk auch im WDR nachhören zu können. Auf der CD wird es von einem Orchester aus Lyon unter Nikolaj Szeps-Znaider gespielt – eine tolle Studioaufnahme, wie ich finde.

    Ralf Krüger

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