Derek Welton © Simon Pauly
Dreieinhalb Stunden konzertante Oper und keine Minute Langeweile? Ja, es ist möglich, wenn Derek Welton die Fassade des wütenden Macho-Wotan einreißt und Christiane Libor Brünnhildes Wesen zum Vorschein bringt – ohne Schwulsticolor und kristallinem Cinemasound. Das zweite Werk des Projektes „The Wagner Cycles“ unter der künstlerischen Gesamtleitung von Kent Nagano und Jan Vogler wird dank des überzeugenden Sängerensembles in der ausverkauften Philharmonie in Köln ein voller Erfolg.
Richard Wagner
Die Walküre, Oper in drei Aufzügen.
Erster Tag des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen
Wotan: Derek Welton
Siegmund: Ric Furman
Sieglinde: Sarah Wegener
Brünnhilde: Christiane Libor
Hunding: Patrick Zielke
Fricka: Claude Eichenberger
Walküren: Natalie Karl, Chelsea Zurflüh, Karola Sophia Schmid, Ulrike Malotta, Ida Aldrian, Marie Luise Dreßen, Eva Vogel, Jasmin Etminan
Dresdner Festspielorchester
Concerto Köln
Leitung: Kent Nagano
Kölner Philharmonie, 24. März 2024
von Petra und Dr. Guido Grass
Kalte Sturmböen wehen uns über dem Rhein entgegen, vom heftigen Schauer durchnässt erreichen wir die schützende Philharmonie. Ein bisschen fühlen wir uns wie Siegmund, der sich zu Beginn des ersten Aufzugs von Richard Wagners „Die Walküre“ zu Hundings Haus durchschlägt. Die passende Stimmung erzeugt das Orchester. Noch unwirtlicher als sonst führt uns die Einleitung sofort ins Geschehen.
Der raue Klang der historisch informierten Aufführung ist hier besonders passend. Heute sollen wir hören, wie Richard Wagners Werk wohl zu seiner Zeit geklungen haben mag. Das wissenschaftliche Projekt „The Wagner Cycles“ setzt die neuesten Erkenntnisse in enger Zusammenarbeit mit allen Beteiligten und mit authentischen Instrumenten um: „Die Forschung inspiriert die Praxis – und andersherum“.
Stierhorn und Schalltrichter
Kent Nagano führt das Orchester eng an der Hand, die Partitur kaum aus den Augen lassend. Immer wieder schaut er sich zu den Sängern um, um sicherzustellen, dass das Orchester diesen optimal folgt. Der Gesang steht bei ihm zurecht an erster Stelle .
Der Klang des Orchesters mit historischen Instrumenten oder ihren Nachbauten ist anfangs gewöhnungsbedürftig. Doch schnell hören wir uns ein. Einige Überraschungen hält das Orchester für uns auch bereit: Wann hat man je im Konzertsaal ein Stierhorn gehört? Ein toller Effekt, wenn der Stierhornruf den Auftritt Hundings zum Kampf begleitet.
Wie schon im Sommer letzten Jahres bei „Das Rheingold“ hören wir manch Altgewohntes heute mit neuen Ohren. Insbesondere dem Gesang und seiner Verständlichkeit kommt die Herangehensweise zugute. Beziehungsgeflechte werden hierdurch sogar noch bewusster. Aus altbekannten Typen werden Charaktere.
Etwas blass bleibt lediglich das Orchester beim Walkürenritt zu Beginn des dritten Aufzugs. Dies liegt weniger an den Grenzen, die die historischen Instrumente mit sich bringen. Größere Exaktheit des Orchesters unter präziserer und pointierterer Führung wäre an dieser Stelle wohl nötig gewesen. Dass es auch anders geht, hatte das Orchester beispielsweise zu Beginn des zweiten Aufzugs zeigen dürfen: Hier wurde vor dem Eintreffen der erzürnten Fricka eine atmosphärische Hochspannung erzeugt.
Keineswegs blass sind die Walküren, die hier hineinreiten. Zunächst teilweise über den Saal verteilt, schmettern sie ihr „Hojotoho! Hojotoho!“ über das Orchester hinweg. Die Sprechtrichter, die man auch aus alten Abbildungen kennt, erzeugen einen tollen Effekt. Mit offensichtlicher Spielfreude sind hier die Sängerinnen bei der Sache. Und auch gesanglich ist jede einzelne von ihnen auf Top-Niveau.
Liebe und Lust im Lenz
Langes Blondhaar, feine Gesichtszüge, das muss doch der Siegmund sein! Auch wenn er heute einen schwarzen Anzug trägt und Ric Furman heißt. Sieglinde verliebt sich sofort in ihn, was sicher auch an seiner wohlklingenden Tenorstimme liegt. Furman hält seine Stimme in jeder Lage gut kontrolliert. In den aberwitzigen Wettbewerb der lautesten und längsten Wälserufe tritt er nicht ein. Ein wenig mehr Kraft hätten wir uns an der ein oder anderen Stelle dennoch gewünscht. Seine stärksten Momente hat er in den liedhaften Passagen, zum Dahinschmelzen – Belcanto im besten Wortsinne.
An seiner Seite singt und spielt Sarah Wegener die Sieglinde. Sie ist in einem breit gefächerten Repertoire zu Hause: vom Barock bis zur zeitgenössischen Musik, vom Oratorium zum Liedgesang, zur romantischer Oper. Diese Flexibilität hört man ihr auch heute an. Sie gestaltet die Rolle mit facettenreicher Stimmführung. Dramatische Stärke und vibratoarme, glockenklare Höhen beherrscht sie gleichermaßen. Auch in den leisen Momenten können wir sie gut verstehen. Wenn aus ihr „Du bist der Lenz!“ herausbricht, ist der Frühling wirklich da.
Patrick Zielke ist als Hunding eine Idealbesetzung. Ein Schrank von einem Mann mimt er mit seinem gesamten Ausdruck den perfekten Fiesling. Bedrohlich dröhnt sein Bass. Scheinbar ohne jede Anstrengung füllt seine kraftvolle Stimme mühelos den Saal, ohne auch nur ansatzweise zu forcieren. Und leise kann er genauso gut.
Wotan und Brünnhilde – ein Mann in den Wechseljahren und seine autonome Tochter
Wotan: Der Mann hat’s echt nicht leicht. Im Beruf fliegt ihm alles um die Ohren und zuhause zickt auch noch seine Frau Fricka rum. So hübsch sie auch anzuschauen und anzuhören sein mag, Fricka, gesungen von Claude Eichenberger, kann ein echter Besen sein. Die Mezzosopranistin legt die Rolle dramatisch an. Ihre dunkle tembrierte, sanfte Stimme kann sie ebenso in einen gleißenden Strahl verwandeln.
Und seine Tochter Brünnhilde tanzt auch nicht mehr nach seiner Pfeife. Christiane Libor zeigt in Mimik, Gestik und Gesang, wie Brünnhilde heranreift. Die Professorin für Gesang ist seit längerem auf den großen Bühnen in den großen Wagner-Sopran-Rollen unterwegs. Anfänglich noch keck dreinschauend, fast kindlich-jugendlich, sieht man förmlich, wie sie Rückgrat gewinnt. Ein Höhepunkt ist zweifelsohne ihr Auftritt im dritten Aufzug. Wenn sie völlig allein „War es so schmählich, was ich verbrach“ anstimmt, ist ihre Stimme zart und doch rund. Ganz allmählich steigert sie ihren Ausdruck bis zum dramatischen Höhepunkt. „Der diese Liebe mir ins Herz gehaucht“ ist unvergleichlich herzzerreißend.
Derek Welton ist in der Wagnerwelt zuhause und in den großen Bassbaritonpartien an allen großen Häusern gern gesehener Gast. Wir hören ihn heute erstmalig live als Wotan und sind schier begeistert. Seine Stimme ist in allen Lagen berauschend wohltönend. Sie scheint keine Grenzen zu kennen.
In seinem Bühnenspiel werden die inneren Konflikte Wotans offenbar. Wie windet er sich, um aus der Falle der Verträge und moralischen Verpflichtungen herauszukommen. Und doch muss er verzweifelt erkennen, dass es keinen anderen Ausweg als „das Ende“ gibt. Als Arzt würde man bei ihm ohne jeden Zweifel eine schwere Depression mit suizidalen Tendenzen diagnostizieren. Seine maßlose Wut wirkt täuschend echt. Das Parkett unter uns zittert und wir halten uns fest, als er seiner Lieblingstochter aus dem Off befiehlt: „Steh’! Brünnhild’!“
Noch beeindruckender ist jedoch noch zu hören, wie sein Herz durch Brünnhilds Rede erweicht, zu spüren wie sehr er sich durch die Bestrafung Brünnhildes selbst bestraft. Der Schlussgesang ist bei Welton berührendster Liedgesang in ganz großer Oper.
Einige Sekunden herrscht nach dem letzten Ton noch betroffene Stille im Saal. Jubel und tosender Applaus im Stehen brechen aus dem Publikum hervor.
Für uns steht fest: Heute wurde ein neues Kapitel der musikalischen Wagner-Interpretation aufgeschlagen. Nur eines wünschen wir noch: eine historisch informierte Bühneninszenierung!
Petra und Dr. Guido Grass, Köln, 27. März 2024
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
María Dueñas, Violine Kazuki Yamada, Dirigent, CBSO Kölner Philharmonie, 11. März 2024