Foto: © Tillmann Franzen
WDR Sinfonieorchester, Kölner Philharmonie, 11. März 2022
Valentin Silvestrov – „Hymne-2001“
Joseph Haydn – Missa in Tempore Belli Hob. XXII:9 / „Paukenmesse“
Dmitri Schostakowitsch – Sinfonie Nr. 5 d-Moll op. 47
WDR Rundfunkchor
WDR Sinfonieorchester
Manfred Honeck, Dirigent
Jeanine De Bique, Sopran
Anna Lucia Richter, Mezzosopran
Patrick Grahl, Tenor
Paul Armin Edelmann, Bass
Nicolas Fink, Einstudierung
von Daniel Janz
„Als wir vor zwei Jahren dieses Programm erstellt haben, konnte niemand wissen, dass es zur grausamen Realität werden würde“, begrüßt Manfred Honeck (63) an diesem Freitagabend das Publikum in der Kölner Philharmonie. Kaum hätte ein Satz besser den Wahnsinn der heutigen Tage verdeutlichen können. Es ist in der Tat ein gespenstischer Moment, der dieses Konzert einleitet. Das Pogramm mit dem Titel „Krieg und Frieden“ hätte ursprünglich nur für die zur Aufführung stehenden Werke gelten sollen. Nun aber gibt es höchstaktuell das wieder, was wir täglich miterleben.
Es spricht für den österreichischen Dirigenten und das Orchester, dass sie ihr Programm den aktuellen politischen Umständen entsprechend erweitert haben. Der Abend, der ursprünglich „nur“ mit Joseph Haydns Paukenmesse Hoffnung spenden und mit Schostakowtischs fünfter Sinfonie die Zerrissenheit unter diktatorischen Regimen darstellen sollte, wurde kurzfristig um die „Hymne-2001“ des auch heute noch aktiven ukrainischen Komponisten und Aktivisten Valentin Silvestrov (84) erweitert. Mit dem Programm verbindet ihn nicht nur der Krieg in der Ukraine oder sein Geburtsdatum; er wurde in demselben Jahr geboren, wie Schostakowitschs fünfte Sinfonie uraufgeführt wurde. Ähnlich wie Schostakowitsch war auch Silvestrov in der Sowjetunion starken Repressionen ausgesetzt. Bekannt ist er deshalb auch u.a. für politisch motivierte Kompositionen, wie beispielsweise das im Lichte der Maidanproteste entstandene Werk „Diptych“ oder das „Gebet für die Ukraine“ (2014).
Silvestrovs „Hymne-2001“ darf auch deshalb als klares Solidaritätszeichen gewertet werden. Das nur für Streicher konzipierte Werk besticht vor allem durch lange nachklingende Töne. Ein sanfter, klagender Ausdruck breitet sich über die mehrfach geteilten Streicher aus, immer wieder brechen einzelne Soli heraus. Trotz der nur knappen Vorbereitungszeit zeigen Honeck und Orchester hier auch, dass sie es verstehen, die einzelnen Stimmen gut gegeneinander abzugrenzen. Das über weite Strecken harmonische und musikalisch etwas einfache Werk – der Komponist beschrieb es als „umhüllt von Schweigen“ – gelangt so zu einer fast sphärischen Klarheit. Das sorgt vor allem im Nachklang des letzten Tons für Gänsehaut.
Dass Honeck nach diesem „musikalischen Gebet“ für die Ukraine keinen Applaus zulässt, sondern direkt in Haydns „Paukenmesse“ startet, verleiht dem Ganzen noch zusätzlichen Nachdruck. Diese „Messe in Kriegszeiten“ bildet zwar eine traditionelle katholische Messe ab, bezieht sich aber auch auf reale Kriegserlebnisse, wie z.B. die lauten Einsätze der Pauke, die an die französische Armee im Italienfeldzug erinnern sollen. Auch Honeck klärte zu Beginn des Abends auf, dass diese Messe zur Zeit der napoleonischen Belagerung Wiens entstand, die unglaubliches Leid verursacht hätte.
Dennoch überwiegen die hoffnungsvollen, dankenden Momente. Typisch für Haydn werden bereits gehörte Melodien oft wiederaufgegriffen und das Orchester etwas in den Hintergrund gedrängt. Was dem Werk dadurch instrumental an besonderen Momenten fehlt, gleicht Haydns Umgang mit dem Text wieder aus. Dazu beweisen Honeck und das WDR Sinfonieorchester Gespür fürs Detail, was dieser Aufführung zusätzlichen Reiz gibt. Dadurch glänzen auch hier wieder die Streicher. Trompeten und besonders die Pauke setzen deutliche Akzente und die Holzbläser füllen dies mit einem durch und durch wärmenden Klang. Dafür ein großes Lob – diese Messe kann bei weniger präzisen Orchestern auch deutlich einfältiger klingen…
Auch gesanglich haben Dirigent und Orchester auf angemessene Unterstützung gesetzt. Allen voran sei hier Jeanine De Bique (41) genannt, die ihre Einsätze mit einer erfrischenden Beweglichkeit in der Stimme und sehr deutlicher Aussprache füllt. Den Spaß, den die in Trinidad und Tobago geborene Sopranistin an ihrer Arbeit hat, sieht man ihr nicht nur an, das Gefühl legt sie auch in ihren Gesang. Besondere Ausdrucksstärke erreicht sie in der Höhe, ohne dabei schrill zu werden. Eine beachtenswert herausragende Leistung, vielleicht sogar beste Solistin dieses Abends.
Auch Anna Lucia Richter (32) aus Köln kann begeistern. Das wärmende Timbre der Mezzosopranistin erinnert gelegentlich an die Ausdrucksstärke eines Alts. Ihre Passagen gestaltet sie sehr gefühlsvoll, fast schon anschmiegsam. Gerade auch im Sanctus kann sie durch ihr Solo besonders bewegen. Und auch im Satz mit den anderen drei Solisten zusammen gliedert sich ihr Gesang harmonisch sehr gut ein.
Patrick Grahl besticht vor allem durch seinen gefühlvollen und weichen Klang in der Stimme. Der in Leipzig geborene und bereits mehrfach ausgezeichnete junge Tenor kann besonders durch seine klar ausgeprägte Kopfstimme bestechen. Besonders viel Freude vermittelt er beim abschließenden Hosanna im Sanctus. Hier zeigt er auch, dass er sich nicht nur im Hintergrund halten kann, wie es bei den vorangegangenen Passagen den Eindruck machte.
Und auch der Österreicher Paul Armin Edelmann (54) liefert eine ganz und gar erfreuliche Leistung ab. Haydn setzte die von ihm vorgetragenen Passagen zwar für einen Bass, gesanglich liegen sie aber so hoch, dass Edelmann sie als Bariton ebenfalls problemlos darbieten kann. Das Ergebnis ist ein wahrer Ohrenschmaus. Ob in dem Qui tollis, wo er solistisch gegen das (ebenfalls großartig spielende) erste Cello ansingt, die Passagen im Credo, die er sehr gefasst inszeniert oder wenn er im vierstimmigen Satz mit allen Solisten die Fülle in der Tiefe gibt: Seine Einsätze sind an diesem Abend steter Garant für einen energiegeladenen Gesamteindruck.
Darüber hinaus ist auch die fabelhafte Leistung des WDR Rundfunktchors zu erwähnen, der unter Nicolas Finkes Einstudierung wirklich Großes erarbeitet hat. Ob durch klare Intonation und deutliche Akzente im Kyrie, durch sanfte Anklänge im Qui tollis, bewegende Passagen im Credo oder dem a-capella-artigen Einsatz im Agnus dei – diese Koordination und Reinheit in den Stimmen ist stets eine Freude.
Nach der Pause können Dirigent und Instrumentalisten dann an Schostakowitschs Fünfter beweisen, wozu sie imstande sind. Diese Sinfonie im Programm zu lassen ist vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Ereignisse eine lobenswert mutige Entscheidung, wenn man bedenkt, dass bereits eine Reihe von Konzerthäusern angefangen hat, russische Komponisten zu boykottieren. Was aber könnte in diesen Tagen besser passen, als ein vermeintlicher Dissident, der unter Lebensgefahr seine Kritik am Stalinismus so sehr verstecken musste, dass selbst heute die Tragweite seiner Ablehnung nicht gänzlich geklärt ist? Können wir alle aus Schostakowitschs Beispiel – einem bekennenden Pazifisten – nicht viel über die aktuelle Lage lernen?
Musikalisch ist dieses Werk höchst ambivalent. Den klaren Themen stehen immer wieder verworrene Episoden gegenüber, die bis in die Ziellosigkeit hinein ihre Form zu verlieren scheinen – eine Tendenz, die bereits in Schostakowitschs vierter Sinfonie festzustellen ist und schließlich bei seiner siebten einen (traurigen) Höhepunkt erlebt. Dazu gesellen sich immer wieder mal brutal, mal grotesk klingende Ausbrüche im Blech unter tosendem Schlagzeugeinsatz. Dadurch stellt auch diese Sinfonie hohe Anforderungen an Orchester und Interpret, den roten Faden aufrecht zu erhalten.
Tatsächlich gelingt das Honeck und dem WDR Sinfonieorchester geradezu famos! Ob beim dramatischen Einstieg in den ersten Satz mit dem fast schon lyrischen Zwischenspiel von Streichern und Holzbläsern – besonders brillieren hier die Flöte und das Horn im Zusammenspiel – oder der furios feurigen Marschepisode, die in der Mitte des Satzes durchschlägt: Hier sitzt alles. Im zweiten Satz trällern dann die Hörner voller Stolz die von Schostakowitsch bewusst falsch gesetzten Töne und bilden dazu einen Kontrast zu dem verspielten Solo der ersten Violine und erneut klaren Einwürfen der Flöte… dass dieser Walzer dadurch wie eine Karikatur seiner selbst wirkt, darf durchaus programmatisch aufgefasst werden.
Balladenartig fügt sich dann der dritte Satz in dieses Gebilde aus kompositorischer Zerrissenheit und schlägt somit auch eine musikalisch interessante Brücke zum ersten Werk des Abends, die so sicher nicht beabsichtigt war, dafür aber umso mehr die Konzeption dieses Konzerts bereichert. Die Wehmut, die auch schon bei Silvestrov anklang, findet hier in dem fast schon verklärenden Gesang der Streicher zu vereinzelten Klängen der Harfe eine ergreifende Vollendung. Einfach nur klasse!
Das stampfende Finale, in dem die Sinfonie dann endet, dürfte mit Sicherheit eine der ambivalentesten Kompositionen Schostakowitschs sein. Einerseits rehabilitierte es ihn 1937 vom Vorwurf des Formalismus; seine Fünfte wurde später sogar zum Idealbild des sozialistischen Realismus erhoben – begleitet von westlicher Kritik, es würde sich um sowjetische Propagandamusik handeln. Gleichzeitig aber ist dieses Ende so platt, dass man schon fragen muss, ob diese hineininterpretierte Euphorie ernst gemeint ist. Dass Schostakowitsch es besser konnte, zeigen andere seiner Werke.
Dieses Spannungsverhältnis auszudrücken gelingt dem WDR Sinfonieorchester unter Honeck heute vortrefflich. Einvernehmlich führen sie die Sinfonie zu einem durchschlagenden Höhepunkt hin, um dann in einer fast endlosen Wiederholung eines Dreiklangs zu enden. Ein Finale, das damals wie heute trotz vieler Fragen sehr bewegt; zur Uraufführung soll der Applaus über eine halbe Stunde lang angedauert haben. Und auch heute zeigt sich das Publikum begeistert, viele applaudieren dem Orchester sogar im Stehen, was letztendlich auch beweist: Egal ob in Friedens- oder Kriegszeiten – Musik ist ein Weg, die Menschen über Nationalitäten hinweg miteinander zu verbinden.
Daniel Janz, 14. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at