Foto: ROH (c)
Royal Opera House London, 16. September 2019
Wolfgang Amadeus Mozart, Libretto: Lorenzo da Ponte, Don Giovanni (Wiederaufnahme
von Charles E. Ritterband
Wie Erwin Schrott den Don Giovanni gibt – das ist ein Erlebnis der Weltklasse, das reißt selbst die verwöhntesten Besucher der vornehmen, traditionsreichen Royal Opera aus den roten Samtpolstern! Der aus Uruguay stammende Bassbariton Schrott, der mit seiner Ex-Partnerin Anna Netrebko einen Sohn hat, singt nicht nur fantastisch, mit spielerisch-mozartscher Leichtigkeit und zugleich einem maskulinen, warmen Sound, der so überwältigend sexy ist, dass nicht nur die Protagonistinnen auf der Bühne weiche Knie bekommen, sondern zweifellos auch manch vornehme Dame im Parkett. Schrott ist auch ein fantastischer, komödiantischer Darsteller: seine Grimassen, die winzigen ironischen Gesten, sein treppauf treppab federnder Gang – er gibt nicht nur sängerisch den Ton an in dieser fabelhaften Produktion, sondern auch schauspielerisch.
Denn diese gescheite, hochkreative Inszenierung setzt unbestreitbar neue Massstäbe für eine der berühmtesten Opern Mozarts. „Dramma giocoso“, wie es der Librettist Da Ponte nannte – ein scherzhaftes, spielerisches, komisches Drama: In der Produktion der Royal Opera (Koproduktion mit dem Gran Teatre del Liceu, Barcelona, der Israeli Opera und der Houston Grand Opera) kommt das leichte, ironische, verspielte Element deutlicher zum Ausdruck als in jeglicher Inszenierung, die ich je gesehen habe. Der Regisseur Kasper Holten hat offenbar an jedem Detail akribisch geschliffen und sämtliche Sänger und Sängerinnen haben sein durchdachtes Konzept mit Hingabe und Präzision verwirklicht.
Dabei herausgekommen ist eine Darstellung, die witzig, spritzig und komödiantisch ist – das tragische, düstere bedrohliche am Mord gleich zu Anfang und dem immer wieder als Gespenst auftauchenden Commendatore und das rücksichtslos sexistisch-egoistische Verhalten des Don Giovanni wird übertönt vom Heiteren, Spielerischen. Das kommt zum Ausdruck in Gesten und Gängen, in der Mimik der Beteiligten. Und vor allem wird die bekannte Geschichte neu aufgerollt, psychologisch ausgefeilt, neu erzählt: Plötzlich wird klar, was man bisher nur vermuten konnte.
Don Giovanni ist nun plötzlich nicht mehr der Übeltäter, der naiv-gutgläubige Frauen hinters Licht führt und sie anschließend systematisch verführt um sie danach achtlos fallen zu lassen. Donna Anna genießt die angebliche Verwechslung-Verführung in vollen Zügen und durchaus sehr aktiv – bis aus dem (Liebes-)Spiel Ernst wird und sie ihren toten Vater vor sich liegen sieht. Donna Elvira rennt dem Don Giovanni trotz aller Abweisungen, Austricksungen und Erniedrigungen voll blinder Verliebtheit nach, sie gibt ihm stets eine neue Chance trotz seines eindeutigen Verhaltens, sie wirkt – geradezu klebrig.
Und vor allem wird Zerlina neu interpretiert: Sie ist – ganz und gar nicht das naive Bauernmädchen – eindeutig motiviert zu diesem Seitensprung und derart interessiert an dieser Verführung durch den galanten, gut gekleideten Edelmann, dass sie sehr schnell den aktiven Part bei der Angelegenheit übernimmt. Und jene Szene am Rande des Maskenballs, als sie – nun offenbar das Opfer einer Vergewaltigung – laut schreiend die Szene betritt, ist hier ganz anders: Sie inszeniert die Sache, reisst sich laut schreiend die Bluse vom Leibe. Und Don Giovanni ist da gar nicht vorhanden, er hält sich irgendwo im Hintergrund auf, sie steht ganz allein auf dem Balkon. Ein ironischer Seitenblick des Regisseurs auf die aktuelle Me-too-Debatte? Fast will es so scheinen.
Diese Zerlina (Louise Alder) mit ihrem frischen, hellen wie ein klarer Quell sprudelnden Sopran, meistert auch die heiklen Passagen mit virtuoser Leichtigkeit und spielt dabei ihr trickreiches Doppelspiel mit dem Verlobten Masetto und dem Verführer Giovanni. Dieser Masetto, stets verdrossen und düster, wie es sein soll, ist ein maskuliner, warmer Bass, der in seiner Schwere und Einfalt herrlich kontrastiert mit der hüpfend-flatterhaften Verlobten. Und die beiden Damen sind nicht nur hinreißend schön in Antlitz und Gestalt – sie singen auch vollendet. Die Donna Anna der Malin Byström bringt berührende Passagen, intensiv in ihrem Zorn, zugleich glühend in ihrer Leidenschaft für den Verführer und spürbare Zurückhaltung, ja Verachtung für den biederen Don Ottavio. In ihrem ganzen stimmlichen und emotionalen Überschwang meistert sie Tempi, Höhen und Tiefen mit kontrollierter Präzision.
Myrtò Papatanasius Donna Elvira glänzt mit virtuosem Belcanto und lässt zugleich die Ängste der immer wieder Zurückgewiesenen, vergeblich ihr Herz verschenkenden Liebenden spüren. Don Ottavio, allzu anständig und angepasst in seinem perfekt sitzenden Frack, verströmt Wärme und seine schöne Stimme geht auf in tenoralem Schmelz. Komödiantisch und zugleich stimmlich hervorragend der empörte und doch schalkhafte Diener Leporello (Roberto Tagliavini). Düster und großartig der Bass des Comtur (Brindley Sherratt).
Die englische Star-Bühnenbildnerin Es Devlin, die ja letztes Jahr auch in Bregenz mit spektakulären Bauten bei der großartigen „Carmen“ gewirkt hatte, hatte für diesen Don Giovanni ein aussergewöhnliches, variationenreiches und perfekt bespielbares Bühnenbild entworfen – in Synthese mit den Video-Projektionen von Luke Halls: Ein weißes Haus mit unzähligen Türen und Treppen auf einer Drehbühne – die perfekte Verkörperung des Liebes-Abenteurers Giovanni. Ein großes Herz mit vielen Türen und Hintertüren, Auf- und Abgängen, Fluchtwegen. Wie in einer traditionellen französischen Komödie geht ständig eine Tür auf, eine andere bleibt verschlossen, überraschend tritt ein Sänger hier auf, verschwindet dort wieder.
Das Bühnenbild bietet die ideale Plattform für all die vielen Verwechslungen , Tricks und Täuschungen, Illusionen dieses Stücks. Man weiß nie, ob man eine reale Tür, ein Fenster oder eine Projektion vor sich hat – „trompe l’oeil“-Architektur ebenfalls in bester französischer Tradition. Und das Haus wird ständig zur Projektionsfläche – meist für die Auszüge aus Leporellos „nicht kleinem Büchlein“, die ständig wachsenden, rapide anschwellenden, bald unübersehbaren Listen an internationalen Eroberungen jeglichen Alters, Formats und aller sozialen Schichten. Aber auch für das Blut des Ermordeten, das sich unaufhaltsam über das Bühnenbild, ja die ganze Bühne zu ergießen scheint.
Ein psychologisch perfekt durchgearbeitetes Gesamtkunstwerk der Sonderklasse, diese Don Giovanni-Inszenierung in der erstklassige Sängerinnen und Sänger nicht nur stimmlich, sondern auch schauspielerisch brillieren. Mit einem präzise durchdachten Bühnenbild, das diese außergewöhnliche Inszenierung trägt und inspieriert – und dem wie immer erstklassigen, temperamentvollen Orchester der Royal Opera unter der souveränen Stabführung von Hartmut Haenchen. Auch Mozart und Da Ponte wären hingerissen gewesen. Da Ponte hatte ja im Herbst 1792 London besucht – nach seiner Begegnung mit Casanova in Prag, wo fünf Jahre zuvor der Don Giovanni (der zweifellos von Casanovas Abenteuern inspiriert war) seine Uraufführung hatte.
Dr. Charles E. Ritterband, 17. September 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Don Giovanni: Erwin Schrott
Leporello: Roberto Tagliavini
Donna Anna: Malin Byström
Donna Elvira: Myrtò Papatanasiu
Zerlina: Louise Alder
Don Ottavio: Daniel Behleo
Masetto: Leon Kosavic
Il Commendatore: Brindley Sherratt
Orchester und Chor der Royal Opera
Regie: Kasper Holten
Bühne: Es Devlin
Kostüme: Anja Vang Kragh
Video-Designer: Luke Halls
Dirigent: Hartmut Haenchen
Chorleiter: William Spaulding
Wie oft muss es noch gesagt werden? Schrott und Netrebko waren nie verheiratet, haben jedoch einen gemeinsamen Sohn.
Waltraud Becker
Liebe Frau Becker,
wir hatten „seine Ex-Frau Anna Netrebko“ geschrieben. Im 21. Jahrhundert kann dies auch eine Partnerin sein,
mit der Mann nicht verheiratet ist. Vor allem jüngere Menschen sagen heute „Meine Frau“ / „Mein Mann“ – auch wenn sie
nicht beim Standesamt waren. Der Klarheit halber habe ich aus „Ex-Frau“ eine „Ex-Partnerin“ gemacht – obgleich „Ex-Frau“
mir passender erscheint, da Herr Schrott und Frau Netrebko schließlich einen Sohn haben – auch wenn sie nicht geheiratet haben.
Herzlich aus HH
Andreas Schmidt
Herausgeber
„Ein ironischer Seitenblick des Regisseurs auf die aktuelle Me-too-Debatte?“
Gibt es dafür eine Quelle? Die Me-too-Debatte ist kein Debatte, sondern eine Bewegung und es geht dabei nicht darum, dass Frauen Männer falsch beschuldigen, sondern darum das Schweigen zu brechen.
„Opernfan“ (deutsche Email-Adresse; leider gibt er/sie keinen richtigen Namen an)