Le nozze di Figaro/Garsington © Julian Guidera
In unverändert erquickender Frische hat Garsington Opera die hervorragende „Nozze“-Inszenierung aus dem Jahr 2005 mit einem erstklassigen Ensemble von Sängerinnen und Sängern wieder aufgenommen: Eine intelligente, berührende Inszenierung – reich an humorvollen Details, musikalisch erstklassig.
Wolfgang Amadeus Mozart, Le nozze di Figaro
Garsington Opera, 28. Juni 2024
Dirigentin: Tabita Berglund
Regie: John Cox / Wiederaufnahme-Regie: Bruno Ravella
Bühne: Robert Perdziola
Licht: Malcolm Rippeth
Philharmonia Orchestra
Garsington Opera Chorus
Wiederaufnahme der Inszenierung von 2005
von Dr. Charles Ritterband
Wer, wie der Schreibende, erst kürzlich die mit dubiosen Regieeinfällen angereicherte „Nozze“-Inszenierung der Wiener Staatsoper gesehen hat, der freut sich über eine klassische Version, in der alles stimmt und statt überflüssigen Geistesblitzen des modischen Regietheaters kluge und sinnvolle Details dieses Werk beleben: In der bewährten Garsington-Inszenierung des inzwischen fast 90-jährigen englischen Meisterregisseurs John Cox.
Wir hatten Glück mit dem Wetter – in England bekanntlich alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ein strahlend-wolkenloser Tag nach dem anderen, zuerst in Glyndebourne, dann hier in Garsington. Das kam natürlich vor allem dem traditionellen Picnic zugute, welches die Opernbesucher, in „Black Tie“, im Smoking und die Damen im langen Abendkleid, auf Picnicdecken oder mitgebrachten Gartenmöbeln, möglichst noch mit Kristallgläsern, Champagnerkübeln, edlem Geschirr und Silberbesteck in der jeweils 90minütigen Opernpause zelebrieren – beäugt von allerlei Getier:
In Glyndebourne sind es Schafherden gleich neben dem Picnic-Rasen und in Garsington imposante Herden von Hirschen in der weitauslandenden typisch englischen Hügellandschaft. Schilder warnen eindringlich vor Luftangriffen der Picnic-Esser: Seit hierzulande die ausgestorbenen „Red Kites“ (Rotmilane), die aggressiven Flugkünstler mit einer imposanten Flügelspannweite von bis zu 165 Zentimetern wieder heimisch geworden sind, kreisen diese pünktlich zu Beginn der großen Opernpause hungrig und angriffslustig über den Picnicplätzen von Garsington und stürzen sich gnadenlos und mit unheimlicher Präzision auf allfällige Fleischreste, die auf den Tellern liegen.
Die Opernbesucher sind gewarnt vor derartigen Luftangriffen dieser Greifvögel – wir selbst können ein Lied davon singen, der Schreck sitzt uns noch in den Knochen…
Es ist eine hübsche Nuance, dass sich Graf Almaviva vom König zum Botschafter in London ernennen, Figaro als Kurier und Susanna als „segreta ambasciatrice“ (und geheime Liebhaberin) einsetzen ließ, um seine amourösen Pläne zu verwirklichen: Mozart verbrachte ja auch ein knappes Jahr in London, April 1764 bis Juli 1765, an der Ebury Street 180 in Belgravia – übrigens fast um die Ecke von unserem Londoner Pied-à-Terre in Pimlico. Dort steht auch eine Statue des Komponisten, und ein Schild bezeichnet sein Wohnhaus. Mozart verlor keine Zeit: Bald nach seiner Ankunft im Jahr 1764 komponierte das erst acht Jahre alte Wunderkind genau an dieser Adresse seine erste Symphonie…
Noch am Vortag hatte das Philharmonia Orchestra Brittens Sphärenklänge zum „Midsummer Night’s Dream“ intoniert, heute war es ein perfekt barocker Mozart, mit Panache und Präzision unter der Stabführung der norwegischen Dirigentin Tabita Berglund (die mit diesem Mozart erfolgreich ihr Garsington-Debüt gab) und am folgenden Tag, 29. Juni , sollte es ein temperamentvoller früher Verdi („Un giorno di regno“) sein – dieses relativ kleine Orchester bringt nicht nur höchste Musikalität, sondern auch erstaunliche Flexibilität.
Das Prachtwetter kam dieser intelligent detailreichen Inszenierung zugute – und der raffiniert funktionelle Bau des relativ kleinen Opernhauses tat ein Übriges: So in der Szene, in der Cherubino aus dem Fenster des Schlafzimmers der Gräfin springt, um dem argwöhnischen Grafen zu entkommen. Hier sprang er aus der Kulisse und man konnte seine Flucht durch den prachtvollen Garten, der das Opernhaus umgibt, durch die großen Plexiglasfenster mitverfolgen – und kurz darauf auch das Erscheinen des verärgerten Gärtners.
Das schuf eine Dreidimensionalität, auf welche selbst Glyndebourne verzichten muss. Am Vorabend war ja im ersten Akt des „Midsummer Night’s Dream“ die Rückwand der Bühne entfernt worden, was einen Blick in die Bäume des Gartens erlaubte, und somit auch eine zusätzliche Dimension: Die Einbettung Garsingtons in diese herrliche Naturlandschaft lässt sich auch für Inszenierungen nutzbar machen.
Ein herrlicher Regieeinfall war es auch, den nunmehr zum Offizier ernannten und damit aus dem Schloss fernzuhaltenden Cherubino von Figaro einer Rasur unterziehen zu lassen: Eine kluge Anspielung auf Teil 1 der Beaumarchais-Trilogie, auf den „Barbier von Sevilla“, wo ja Figaro bekanntlich noch (unter manch anderem!) seinem Beruf als Barbier nachgeht. Hier, in den „Nozze“, ist er ja zum Kammerdiener Almavivas avanciert, dem er ja im „Barbiere“ listenreich zu seiner Rosina verholfen hatte. Die Anspielung auf Figaros ursprünglichen Beruf war zweifellos ein guter Einfall!
Ein witziger Einfall auch die Parade der jungen Frauen, welche dem (angeblich auf sein „ius primae noctis“ verzichtenden) Almaviva ihre Blumensträuße überreichen: Sie tun dies mit sichtlichem Missvergnügen, schmeissen dem Grafen ihre Sträuße geradezu hin – und eine der Frauen, unverkennbar schwanger, deutet dem Grafen gegenüber diskret aber unübersehbar auf ihren Bauch hin… jeder weiß, woher das kam…
Großartig der virtuose, strahlende Cherubino der Bethany Horak-Hallet und dessen Verlobte Barbarina (Stephanie Hershaw) mit ihrer mädchenhaft-klingenden Arie zur verlorenen Nadel.
Die Stimmen waren ausnahmslos beeindruckend, das Zusammenspiel des Ensembles virtuos und stimmig: Der Figaro des englischen Bariton David Ireland war schon als Gestalt imposant – und stimmlich mit Kraft und Wärme. Die Gräfin der australisch-britischen Sopranistin Samantha Clarke, eine Spezialistin für Barockopern, die auch unter anderem als Woglinde im „Rheingold“ zu sehen war, bestach mit samtenem, berührendem Timbre. Ihr herrliches „Porgi, amor“ war schlicht zum Niederknien…
Die quicklebendig-temperamentvolle, stimmlich strahlend-klingende Susanna der englischen Sopranistin Claire Lees war bereits bei Opera North als Pamina in der „Zauberflöte“ zu hören. Der Almaviva des aus dem Salzburger Land stammenden Baritons Rafael Fingerlos war im Auftreten gebührend imposant, amüsant als düpierter und verhinderter Verführer, maskulin-kraftvoll und sonor.
Eine durch und durch gelungene, in jeder Hinsicht erfreuliche und vom Publikum unterschiedslos begeistert umjubelte Wiederaufnahme (Regie der Wiederaufnahme: Bruno Ravella) der nun fast schon zwanzigjährigen aber alles andere als verstaubt wirkenden klassischen „Nozze“-Inszenierung mit gekonnt eingesetzter Rokoko-Eleganz im bukolischen Rahmen des 1100 Hektaren umfassenden Garsington-Landsitzes der Familie Mark Getty.
Dr. Charles E. Ritterband, 28. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung:
Figaro: David Ireland
Susanna: Claire Lees
Conte Almaviva: Rafael Fingerlos
Contessa: Samantha Clarke
Cherubino: Bethany Horak-Hallett
Barbarina: Stephanie Hershaw
Antonio: Frazer Scott
Don Basilio: Paul Nilon
Marcellina: Susan Bickley
Dottor Bartolo: Neal Davies
Benjamin Britten, A Midsummer Night’s Dream Garsington Opera, 27. Juni 2024
Georg Friedrich Händel, Giulio Cesare Glyndebourne, 24. Juni 2024