Yuja Wang entmaterialisiert einen Steinway-Flügel, während Vikingur Ólafsson für Bodenhaftung sorgt

Yuja Wang und Vikingur Ólafsson  Philharmonie Berlin, 30. Oktober 2024

Ólafsson und Wang © Sebastian Madej

Sie ist Stilikone, sie ist – pardon – Rampensau. Sie ist eine besessene Zugabenspielerin. Sie ist die Zarte, sie ist die Zupackende. Sie ist ihre eigene Klasse, die Eine und Einzige, die  Unvergleichliche, die Zauberin auf dem Flügel. Die Göttin der Pianistik. 

Klavierabend Yuja Wang und Vikingur Ólafsson

Luciano Berio – Wasserklavier aus Six Encores
Franz Schubert – Fantasie f-Moll für Klavier zu vier Händen D 940
John Cage – Experiences I
Conlon Nancarrow – Study No. 6
John Adams – Hallelujah Junction
Arvo Pärt – Hymn to a Great City
Sergej Rachmaninow – Sinfonische Tänze op. 45

Philharmonie Berlin, 30. Oktober 2024

von Sandra Grohmann

Sie ist die Assoluta des Klavierspiels.

Gleich zu Beginn von Schuberts f-moll Fantasie zaubert Yuja Wang ihr unvergleichliches Pianissimo hervor und entmaterialisiert dabei den massigen Steinway: mit einem Anschlag, der eigentlich gar keinen Ton mehr hervorbringen dürfte, der gleichsam den Schmetterlingsflügel im Birkenschatten zum Klingen bringt. Die ersten sechs Töne sind noch nicht verklungen, und sie sind mir ins Herz gedrungen. Mir ist niemand bekannt, der einen solchen Ton zaubern könnte wie Wang. Oder wie eine befreundete Klavierlehrerin einmal sagte: Sie lotet die Grenzen des Klavierspiels neu aus.

Wie Götter eben so sind, nicht recht von dieser Welt kommen sie in unterschiedlichster Gestalt zu uns nieder. Bei den alten Griechen verwandelte sich Zeus vom Stier in den Schwan in den Adler. Und so ist auch Yuja Wang, diese Göttin der Pianistik, extrem wandlungsfähig. Vom Schmetterling zum zupackenden Adler entwickelt sie sich innerhalb von Hundertstelsekunden mühelos. Ihr Flügel beherrscht den Raum, und schien er eben noch vergeistigt, so erobert er im nächsten Moment in seiner ganzen Majestät wieder das Podium und die zarte Zauberin entfesselt einen Sturm auf ihm, Circe-gleich und assistiert vom listenreichen Odysseus alias Vikingur Ólafsson, den sie heute als ihren Helden mit in die Berliner Philharmonie gebracht hat.

Ein Held, ein Superheld vielleicht muss man schon sein, um an Wangs Seite zu bestehen. Ólafsson macht das glänzend, mit untadeliger Virtuosität, perlenden Läufen und absolut zuverlässig im Zusammenspiel nimmt er jede Tempoverschiebung und jedes Rubato auf, das in den Noten vorgezeichnet ist oder sich im Zusammenspiel ergibt. Dass sein Ton viel handfester, bodenständiger ist als ihrer, ist im gemeinsamen Spiel insbesondere dort zu hören, wo einer des anderen Motiv übernimmt oder spiegelt. Es ist herrlich, unterschiedlichen Anschlag und Ton einmal so deutlich zu herauszuhören.

Das musikalische Erlebnis wird dadurch überhaupt nicht geschmälert, im Gegenteil. Göttin und Superheld harmonieren nicht nur beim Schubert, sondern auch bei den Zeitgenossen und schließlich Rachmaninows Symphonischen Tänzen. Ólafsson, der durchgehend Secondo spielt, unterstützt Wangs Part, arbeitet aber auch die eigene Stimme heraus, manchmal sogar etwas überbetont gegen das hingehauchte Spiel seiner Partnerin.

Das Programm des Abends ist so bunt und außergewöhnlich wie die beiden Pianisten. Auf Berios Wasserklavier folgt attacca die Schubert-Fantasie, danach ist bis zum Rachmaninow Musik des 20. Jahrhunderts zu hören. Und wie die zu hören ist! Daran ist nichts mühselig, das lässt sich alles wunderbar nachvollziehen und genießen – wenn man sich darauf einlässt.

Das Publikum in der ausverkauften Philharmonie lässt sich darauf ein. Es jubelt zu Recht überschwänglich und erklatscht sich, wenn ich mich nicht verzählt habe, sechs Zugaben, die nun wieder überwiegend aus der Zeit der Romantik kommen – von Schuberts tänzelndem Militärmarsch bis zu Brahmswalzern. Und bis Ólafsson sagt: „The last one“. Als ich Wang im Juni zuletzt gehört habe, verzichtete ich ab der zehnten Zugabe aufs weitere Mitzählen. Man merkt, wie die Tasten sie unwiderstehlich anziehen. Mit Ólafsson gemeinsam ist aber ein wenig früher Schluss.

Ihr Pianissimo, das bekomme ich nicht mehr aus dem Ohr. Ich höre ja immer wieder, dass Leute fürchten, diese Pianistin, die ich heute übrigens erstmals im langen Kleid gesehen habe (aber erst nach der Pause, und Ólafsson im passenden grünen Anzug, auch mal schön überlegt) – dass Leute also befürchten, will ich sagen, diese Pianistin beschränke sich auf Äußerlichkeiten und Virtuosität. Ich kann das nicht finden und möchte dazu einladen, alle Vorurteile über Bord zu werfen und sich auf diese äußerst wandlungsfähige Künstlerin einzulassen, die die Möglichkeiten des Klavierspiels völlig neu auslotet. Ich habe dabei jedenfalls viel Vergnügen und wünsche diese Freude jedem, der Ohren hat zu hören.

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