Isarphilharmonie, München: „Der Esel ist ein dummes Tier, was kann der Elefant dafür?“

8. Abonnementkonzert d, Patricia Kopatchinskaja, Violine, Gustavo Gimeno, Leitung München, Isarphilharmonie, 24. Juni 2023

Foto: Gustavo Gimeno © Münchner Philharmonie

Was dieses Zitat mit klassischer Musik zu tun hat, wird uns die Solistin des heutigen Abends, Patricia Kopatchinskaja, vor der Pause erklären. Sie hat uns nicht nur als temperamentvolle Violinistin, sondern auch als Performance-Künstlerin begeistert. Einspringer Gustavo Gimeno überzeugt mit seiner Orchesterführung insbesondere bei den Werken Béla Bartóks.

München, Isarphilharmonie, 24. Juni 2023

Münchner Philharmoniker
Gustavo Gimeno, Dirigent

Patricia Kopatchinskaja, Violine


Béla Bartók

Tanzsuite für Orchester, Sz 77

Béla Bartók
Konzert für Violine und Orchester Nr. 1, Sz 36

Pjotr Tschaikowski
Sinfonie Nr. 4 f-Moll, op. 36

von Petra und Dr. Guido Grass

Ein wenig schreckt man ja immer zusammen, wenn vor Beginn der Aufführung der Managementdirektor mit dem Mikrophon auf die Bühne tritt. Heute können wir uns jedoch gleich wieder aufatmen: Christian Beuke kündigt „nur“ an, dass der ursprünglich vorgesehene Dirigent Santtu-Matias Rouvali kurzfristig durch Dirigent Gustavo Gimeno vertreten wird, wobei das Programm unverändert bleibt.

Vor genau 100 Jahren, 1923, erhielt Béla Bartók zur 50-Jahr-Feier der Vereinigung von Buda und Pest einen Kompositionsauftrag. Er nahm dies jedoch nicht zum Anlass zu nationalistischem Jubel, sondern vereinte in seiner Tanzsuite für Orchester, Sz 77 musikalische Elemente verschiedener, insbesondere osteuropäischer Völker.

Gleich zu Beginn des ersten Satzes machen die Münchner Philharmoniker klar, wie gut sie auch mit schwierigsten, nun gar nicht tänzerischen Passagen zurechtkommen. Hieran hat der Einspringer Gimeno wesentlichen Anteil. Wie eine Rhythmusgruppe wirken die Streicher, ob mit ihren Bögen die Saiten schlagend oder jede einzelne Note detaché spielend.

Beinahe jazzig klingt das Glissando der Posaunen im zweiten Satz, der schnell und wild daher kommt. Nicht minder überzeugt uns das Holz im rhythmisch wohl komplexesten Teil der Suite. Schnell wechseln hier Zweier- und ungerade Taktarten. Die Geigen stimmen mit rumänisch klingenden Figuren und Melodien ein, auf die sich als arabische Elemente die Klänge von Becken und Triangel setzen.

Wohltuend treten im vierten Satz die Soli von Englischhorn und die Klarinette hervor. Scharf, sauber und perfekt intoniert kündigen Trompeten, Posaunen und die Tuba den sechsten und letzten Satz der Suite an. Hier wird wieder klar, wie gut das Blech des süddeutschen Orchesters disponiert ist. Aber nahezu jedes Instrument bzw. Instrumentengruppe bekommt zum Schluss nochmals die Gelegenheit, sein solistisches Können zu zeigen; selbst ein sonst seltenes Bratschensolo ist dabei.

Ein überzeugender Beginn findet nicht nur das Publikum, sondern auch offenbar das Orchester, das dem Dirigenten mit Fußgetrampel applaudiert.

Auch das zweite Stück des heutigen Abends entstammt der Feder Bartóks.

Kopatchinskaja erweckt Bartóks Violinkonzert Nr. 1 zum Leben

Das Konzert für Violine und Orchester Nr. 1, Sz 36 schenkte er seiner Angebeteten, Stefi Geyer, die es jedoch nie zur Aufführung brachte und bis zu ihrem Tode unter Verschluss hielt.

Hoch über den Kopf hält Patricia Kopatchinskaja mit ihrer linken Hand die flatternden Notenblätter und ihre Violine, während sie mit ihrer Rechten das rote bodenlange Kleid rafft und barfuß auf die Bühne läuft.

Patricia Kopatchinskaja © Marco Borggreve

Kaum hörbar stimmt sie das so genannte Stefi-Motiv an. Zu ihren zartesten Tönen treten ein paar Takte später die Solostimme des Konzertmeisters, nach und nach die weiteren Streicher und schließlich das ganze Orchester hinzu. Manchmal gibt auch die Solistin den ein oder anderen Impuls in das Orchester hinein. Sie tritt hier keinesfalls in Konkurrenz oder gar Widerstreit zum Dirigenten, vielmehr erleben wir hier eine harmonische Dreiecksbeziehung. Leiser als leise verklingt der erste Satz.

Mit abrupten Stimmungswechsel beginnt der zweite, der von Dissonanzen geprägt ist. Wenn Kopatchinskaja mit den Füßen wippt, tanzt und zugleich wildeste Läufe spielt, schießt einem „Teufelsgeigerin“ in den Kopf. Nicht nur in ihren Tönen, sondern auch in ihrer Mimik und ihrem ganzen Körper bringt sie die Musik zum Ausdruck. Dies wirkt nicht geschauspielert oder gar aufgesetzt, sondern wie ein wahrhaftiges Durchleiden des Beziehungskampfes, den die Musik darstellt.

Ihre volle Energie überträgt sich auf das Orchester und auch auf uns als Zuhörer. Völlig unerwartet durchbricht eine einfache, volksliedhafte Melodie das Dickicht der Dissonanzen. Im auftrumpfende Finale, gleichsam ganz in romantischer Tradition zeigen Solistin und Orchester nochmals ihr Können.

Gustavo Gimeno, Patricia Kopatchinskaja © instagram

Solistin und Dirigent umarmen sich sichtlich zufrieden. Und das können sie auch sein, finden nicht nur wir, sondern auch das Publikum. Aufrichtig wirkt die Geste der großen Verbeugung Kopatchinskajas gegenüber dem Orchester. Zur Zugabe richtet sie ohne Mikrophon das Wort ans Publikum. Süffisant erklärt sie kurz den Hintergrund des Konzerts:

Bartók sei unsterblich in eine Violinistin, Stefi Geyer, verliebt gewesen, doch diese liebte ihn nicht! Er habe ihr ein Violinkonzert geschenkt, in dem er im ersten Satz ihre schöne und im zweiten ihre hässliche Seite vertonte. Nur eine lustige Melodie gäbe es im Werk. Sie hätte immer gedacht, es würde sich um ein ungarisches Volkslied handeln. Doch nun hätten Studierende des Instituts für Musikwissenschaft der LMU München herausgefunden, dass es sich doch um einen deutschen Kanon mit folgendem Text handelt:

„Der Esel ist ein dummes Tier, was kann der Elefant dafür? Iah, iah, iah!“

Kurzerhand singt sie die Melodie zum Text, teilt das Publikum in vier Gruppen und stimmt den Kanon an. Die ganze Isarphilharmonie singt! Weil es so schön war, darf auch das Orchester bei der Wiederholung zeigen, dass es auch singen kann. Schließlich treten die Instrumente hinzu. Zusammen mit der Soloviolinistin dürfen wir noch einmal den Schluss des Konzerts erleben. Was für eine Zugabe!

Gimeno treibt in Tschaikowskis Sinfonie Nr. 4 das Orchester an

Nach der Pause überzeugen uns einmal mehr die Bläser mit der scharf gespielten Fanfare gleich zu Beginn der vierten Sinfonie Tschaikowskis. Wenn die Violinen im Thema schwelgen, ist dies nicht nur toll zu hören, sondern auch wunderbar anzuschauen: Streicherballett.

Gekonnt, wie weich das erste Horn zu spielen vermag. Mit großen Bewegungen treibt Gimeno das Orchester an, vielleicht etwas zu sehr. Für das Finale des ersten Satzes bleibt etwas zu wenig Spielraum zur Steigerung. Es ist eine verlockende Tücke, die die Wiederholungen gerade bei Tschaikowski mit sich bringen.

Angenehm hält sich die Oboe zu Anfang des zweiten Satzes im Ausdruck zunächst zurück. Effektvoll gelingt so dem Orchester, einen dramatischen Spannungsbogen aufzubauen.

Eine wahre Freude ist das Scherzo. Die Pizzicati eilen dynamisch fließend durch die Streicher. Wenn Trompeten, Hörner und Posaunen nun das Stakkato eher weich anstoßen, ist dies perfekt auf diesen Streicherklang abgestimmt.

Mit knallendem Blech und großer Trommel beginnt das Finale. Hier trägt es seinen Namen „con fuoco“ (mit Feuer) zu Recht. Anders als im ersten Satz vermögen Dirigent und Orchester am Ende doch noch eins drauf zu setzen.

Das Publikum dankt es beiden mit großem Applaus. Auch das Orchester ist offensichtlich mit dem Dirigenten zufrieden. Es ist eine sehr beachtenswerte Leistung, was Gustavo Gimeno hier mit nicht einmal einer Woche Vorbereitungszeit aus dem Orchester und der Musik hervorzaubert.

Im gemischten Programm hat die Isarphilharmonie heute wieder ihre Qualitäten als Konzertsaal zeigen können: eine exzellente Mischung aus Transparenz und warmen Raumklang.

Der eingangs vom Managementdirektor ausgesprochen Einladung zum anschließenden mphil late folgen wir, wie viele andere gerne.

Das mphil late knüpft programmatisch an das vorangegangene Konzert an

In der ehemaligen Lagerhalle für Stromtrafos, dem heutigen Foyer, kann man bei ungezwungener Atmosphäre den Künstlern nahe sein. Heute präsentiert Patricia Kopatchinskaja ein dadaistisches Event mit experimentellen Kurzfilmen auf Basis der „Ursonate“ Kurt Schwitters. Zwischen den Filmen stimmt sie unterstützt von Musikern der Münchner Philharmonikern eigene Kompositionen an, die die Themen des Films musikalisch aufgreifen.

© Dr. GG

Vier Nicht-Schauspieler, darunter auch Kopatchinskaja selbst, spielen zum lautierenden Text unterschiedliche Szenen aus dem Leben. Dabei geht es immer um Kommunikation zwischen den Menschen.

In lockerer, lebendiger Atmosphäre beobachten wir staunend, lachend, erschreckend dem surrealistischen Treiben im Film. Während der Intermezzi erzählen  die Musiker auf der Bühne mit ihren Instrumenten und ihrer gesamten Körpersprache Beziehungsgeschichten. Die Musik ersetzt die Sprache. Wir genießen die Performance außerordentlich und in entspannter Stimmung.

Der Abend klingt ganz nach dem neuen Motto der Münchner Philharmoniker „Nahbar sein und neue Wege gehen“ großartig aus. Wir sind glücklich, dass wir ein Stück mitgehen durften.

Petra und Dr. Guido Grass, 28. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Münchner Philharmoniker, Rafael Payare, Dirigent, Kyōhei Sorita, Jano Lisboa, Michael Hell Isarphilharmonie München, 22. März 2023

Siegfried, WWV 86C, konzertante Aufführung Musik und Libretto Richard Wagner Isarphilharmonie München, 03. Februar 2023

Berliner Philharmoniker Patricia Kopatchinskaja, Kirill Petrenko Philharmonie Berlin, 18. September 2021

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Gustavo Gimeno, Daniil Trifonov, Martin Angerer Herkulessaal, München, Live-Stream am 22.01.2021

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