Lieses Klassikwelt 11 / 2019: Exzentriker – warum ich Teodor Currentzis nicht gerne beim Dirigieren zuschaue

Lieses Klassikwelt 11 / 2019  klassik-begeistert.de

Foto: Teodor Currentzis © Astrid Ackermann

Nun ist der Russe mit griechischen Wurzeln erst 47 und damit das Nesthäkchen neben all den profilierten Granden unserer Zeit, Herbert Blomstedt (92), Bernard Haitink (90), Riccardo Muti (78), Daniel Barenboim (77),  Mariss Jansons, der – wie traurig !- vor wenigen Tagen im Alter von 76 Jahren starb, Riccardo Chailly (66) und Christian Thielemann (60). Keineswegs alle von ihnen ruhten in jüngeren Jahren schon derart in sich wie heute, meist wurden die Bewegungen von Zeit zu Zeit reduzierter.

von Kirsten Liese

Wenn ich mir berühmte Interpreten anschaue, fallen mir immer wieder Macken, Marotten und Eigenwilligkeiten auf, einige verzeihliche, andere weniger schöne.

Unter den älteren Generationen kommt mir der Cellist Pablo Casals in den Sinn, der in Bachs Suiten für Violoncello solo schnelle Tonketten verlangsamte oder beschleunigte, ohne dass der Komponist das vorgesehen hätte. Ähnlich hält es heute der russische Cellist Mischa Maisky, der sich zudem gerne in extravaganten Hemden und Hosen  präsentiert.

Der Pianist Alfred Brendel schnitt beim Spielen hässliche Grimassen, bis er, darauf angesprochen, vor dem Spiegel versuchte, sie sich abzugewöhnen. Sein Kollege Glenn Gould pflegte bei seinen Bach-Interpretationen auf dem Klavier mitzusummen. Die Geigerin Patricia Kopatchinskaja kommt, wo immer ich sie erlebe, barfuß auf die Bühne. Mir nötigt das Bewunderung ab, weil ich mir vorstelle, dass manche Böden im Winter bestimmt ziemlich kalt sind.

Für Sprünge und ausladende Bewegungen auf dem Dirigier-Podium waren Leonard Bernstein und Lorin Maazel berüchtigt, Herbert von Karajan dirigierte mit geschlossenen Augen, wobei ich bis heute schwer beurteilen kann, ob er sich dadurch tatsächlich besser auf die Musik konzentrieren konnte, oder ob da auch ein bisschen Show im Spiel war. Jedenfalls kann ich gut verstehen, wenn Solisten und Sänger lieber mit Dirigenten Aug‘ in Aug‘ musizieren.

Erkennen Sie den gutaussehenden jungen Mann neben Herbert von Karajan? Es ist Mariss Jansons, ehemals Assistent beim Maestro. Jansons erhält nun den „Karajan-Preis“. Foto: Archiv Jansons

Aktuell polarisiert mit dem griechisch-russischen Dirigenten Teodor Currentzis ein „Radikalisierer“, wie ihn der Berliner Tagesspiegel nennt,  das Publikum. Vor wenigen Tagen gab er sein Debüt mit den Berliner Philharmonikern, was mir Gelegenheit gab, ihn erstmals live zu erleben. Die einen vergöttern ihn wie den Heilsbringer eines erstarrten Betriebs, die anderen stören sich an seinem exzentrischen Auftreten und interpretatorischen Eigenheiten. Mir erscheinen beide Extreme übertrieben.

Neben mir in der Philharmonie saß ein Mann um die 40, der mich, kurz bevor das Orchester auftrat, fragte, was für ein Stück auf dem Programm stünde. Verdattert schaute ich ihn an, hatte sich dieser Zuschauer tatsächlich blind eine Karte gekauft? Mir könnte das nicht passieren, beispielsweise würde ich ein Konzert mit einem Programm, das mir nicht zusagt, meiden, selbst wenn meine Favoriten dirigieren. Aber dieser Konzertgänger legte nach, er sei wegen Currentzis hier…

© Olya Runyova, Teodor Currentzis

Auf dem Programm stand das Requiem von Verdi, das ich erst wenige Monate zuvor in grandioser Aufführung mit den Wiener Philharmonikern unter Riccardo Muti in Salzburg erlebt hatte. Was das respektable klangliche Ergebnis anlangt, muss sich Currentzis vor dem erfahrenen Verdi-Experten nicht verstecken, nur einige Härten  im Dies Irae gefielen mir nicht, machten aus Verdi eher Strawinsky.  Mit der bislang kaum bekannten Sopranistin Zarina Abaeva hatte Currentzis dafür eine geniale Solistin an Bord, die alle übertraf, die ich seit Gundula Janowitz und Mirella Freni vor mehr als 30 Jahren in diesem Stück gehört hatte.

Aber: Ich sehe Currentzis nicht gerne beim Dirigieren zu, befindet er sich doch permanent – zu welchem musikalischen Ausdruck auch immer – in Schwingung mit seinem ganzen Körper, wippt von einem Fuß auf den anderen, tanzt, bewegt sich  vor und dann wieder hinter das Pult und verzichtet folglich gleich ganz auf ein Podest.  Ich kann dieses Bedürfnis, mit der Musik mitzugehen und sie energetisch auszuleben, verstehen, aber es bringt eine  Unruhe in die Aufführung, die besonders dann stört, wenn die Musik Ruhe ausdrückt. Currentzis wirkt nicht geerdet, er steht selten einmal mit beiden Füßen auf dem Boden, rotiert vielmehr in Endlosschleife. Noch dazu dirigiert er unnötig die Sänger, wenn das Orchester nicht spielt. In solchen Momenten täte er besser daran, den Stock zu senken und den Solisten zu lauschen, das jedenfalls lehrt Maestro Muti junge Kollegen in seiner italienischen Opernakademie.

Nun ist Currentzis allerdings erst 47 und damit das Nesthäkchen neben all den profilierten Granden unserer Zeit, Herbert Blomstedt (92), Bernard Haitink (90), Riccardo Muti (78), Daniel Barenboim (77),  Mariss Jansons, der – wie traurig !- vor wenigen Tagen im Alter von 76 Jahren starb, Riccardo Chailly (66) und Christian Thielemann (60). Keineswegs alle von ihnen ruhten in jüngeren Jahren schon derart in sich wie heute, meist wurden die Bewegungen von Zeit zu Zeit reduzierter.

© Marco Borrelli, Riccardo Muti

Die eindrucksvollste Entwicklung von allen aber nahm meines Erachtens der Rumäne Sergiu Celibidache, für mich der genialste Dirigent dieses Universums überhaupt. Als junger Mann im Berliner Titania-Palast nach Kriegsende, wo er in Vertretung Wilhelm Furtwänglers die Berliner Philharmoniker dirigierte, soll er – so berichten Zeitzeugen – auf dem Podium wie ein Derwisch getanzt haben, dass seine schwarzen Locken nur so um ihn flogen. Betrachtet man  Fotos und rare Videodokumente aus dieser Zeit, wundert es nicht, dass Frauen dem Maestro in Scharen hinterher liefen, charismatisch und höchst attraktiv war er bei aller genialen Musikalität eben auch noch.

Im Laufe seines Lebens änderte Celi dann seinen Kurs um 180 Grad. Er wandte sich dem Buddhismus zu, ließ die Tempi immer breiter werden, mutierte zu einem Weisen. Im Alter sagte er, er hätte als junger Mann keine Ahnung von Musik gehabt,  wurde zusehends sparsamer in seinen Zeichen und thronte zuletzt bei seinen Konzerten mit den Münchner Philharmonikern,  gesundheitsbedingt, auf einem Hochstuhl wie ein unerschütterlicher Fels in der Brandung.

Vielleicht entwickelt sich Currentzis in seiner Körpersprache auch noch weiter. Zuzutrauen wäre es ihm. Denn eines muss ich ihm lassen: Unter den heutigen Dirigenten unter 60 erscheint er mir als einer der wenigen mit einer starken Persönlichkeit.

Kirsten Liese, 6. Dezember 2019, für
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© Kirsten LIese

Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz,  Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .

 

4 Gedanken zu „Lieses Klassikwelt 11 / 2019
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  1. Richard Wagner schreibt in seinen Schriftten, dass beim Erlebnis eines Konzerts der Sehsinn unwillkürlich zugunsten des Gehörsinns abnimmt. Sonst würde man von den Musikern durch ihre skurrilen Bewegungen zu sehr abgelenkt werden.

    Lothar Schweitzer

  2. Da hat Wagner zweifellos Recht. Aber mitunter kann es durchaus einen Mehrwert bedeuten, einem geerdeten uneitlen Dirigenten zuzuschauen. Dem alten Celi, Muti und Thielemann sehe ich beispielsweise sehr gerne zu. Bei Livekonzerten auf DVD mit Celi ist es so, dass seine Verzückungen im Gesicht, überhaupt die Mimik noch das Erleben dieses Mittlers mitliefert, das genieße ich sehr. Thielemann setzt seine schönen Hände gut ein, da sehe ich auch gerne zu, auch bei Muti, der mit wenig Aufwand exakt den Ausdruck vorgibt.

    Kirsten Liese

  3. Teodor Currentzis zählt zu den wenigen, für die auch ich gewillt bin, etwas tiefer in die Tasche zu greifen. In meiner, ich gebe es zu, noch relativ jungen Karriere als Konzertbesucher, sind mir nur wenige untergekommen, die mich mit ihren Interpretationen derart emotional berühren wie der junge Grieche. Und zwar regelmäßig. Egal ob das Verdi Requiem, Mahler 3 oder Schostakowitsch 7 – jeder Konzertbesuch ein unvergessliches Erlebnis. Man spürt in jeder Note die Intensität, die Hingabe und die tiefe Spiritualität dieses einzigartigen Musikers. „Geschenk Gottes“, so angeblich die Bedeutung des Namens Teo. Nomen est Omen, könnte man sagen.

    Zusehen jedoch kann ich dem Guten auf der Bühne auch nicht. Dabei beobachte ich die Meister liebend gerne bei der „Arbeit“. Gergiev, wenn er mit seinen Flatterhänden wie ein alter Druide seine Ingredenzien verstreut. Thieleman, wenn er sich wie vom Winde verweht nach hinten und vorne biegt, um ganz atypisch mit weit ausholenden Armen von unten den Takt zu geben. Oder Simone Young, deren Eleganz den Stab zu führen schon einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat – optisch zumindest.

    Teodor Currentzis genehmige ich während seines Dirigats kaum einen Blick. Es ist einfach kein schöner Anblick, nicht harmonisch, wenn er hüpft, schnaubt, knurrt und stampft, wie ein wild gewordener Stier. Wie die Musiker und Sänger damit zurechtkommen, ist mir ein Rätsel. Anscheinend gut. Denn das Resultat, die Qualität seiner Musik, spricht für Currentzis.

    Jürgen Pathy

  4. Apropos Thielemann und energetische Bewegungen. Der „Kapellmeister“ höchstpersönlich hat es einmal erwähnt. Wann und wo das gewesen ist, weiß ich nicht mehr – entweder in einem Interview mit Barbara Rett oder in seinem Buch „Mein Leben mit Wagner“: Irgendwann, wenn du älter wirst, musst du ruhiger werden beim Dirigieren. Der Körper spielt nicht mehr mit. Als Junger jedoch, da musst du beinahe schon energisch wirken. Sonst wirft man dir noch vor, du seist zu lahm und kraftlos. In dieser Art und Weise, an den genauen Wortlaut kann ich mich nicht erinnern, hat Thielemann es ungefähr beschrieben.

    Jürgen Pathy

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