Wenn ich diese Symphonie höre, habe ich manchmal das Gefühl, dass diese eigene Welt dieser Symphonie ein einziges Paradies ist. Sie enthält einfach all die Musik, die mir in meinem Leben wichtig ist. Ganz vorne mit dabei: Der Mahler-Klang.
Foto: Claudio Abbado, (c) https://www.gramilano.com/2014/01/great-italian-conductor-claudio-abbado-dies-80/
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Es ist schwer sich für eines zu entscheiden. Für das Lieblingsstück. Das eine, wofür man auf alle anderen Stücke verzichten würde.
Die Hammerklavier-Sonate, Tannhäuser, Dorfschwalben aus Österreich. Oder doch die Orchesterstücke op. 6 von Alban Berg? Die Liste meiner Lieblingsstücke, sie ist lang. Sehr lang. Seitenlang. Aber kaum ein Werk liegt mir so nahe wie die
1. Symphonie von Gustav Mahler. Sie wirkt wie eine Fusion der Musik, die mein musikalisches Leben so prägt: Beethoven 9, Parsifal, Volksmusik. Felder und Ländler. Wörthersee. Frittatensuppe. Und der Mahler-Klang.
von Johannes K. Fischer
Meine erste Begegnung mit dieser Symphonie war erst während meiner Studienzeit, als ich plötzlich das drängende Bedürfnis hatte, mal zur Abwechslung eine Mahler-Symphonie zu hören. Die Beethoven-Symphonien kannte ich seit Jahren auswendig, die Violinkonzerte von Mozart hatte ich alle schon selber gespielt. Nur Mahler war irgendwie komplett an mir vorbeigegangen. Also warf ich einen kurzen Blick auf den Spielplan der San Francisco Symphony, und auf dem Programm des nächsten Mahler-Konzerts stand seine 1. Symphonie.
Doch gleich der Anfang des ersten Satzes, er kam mir irgendwie bekannt vor. Klar: ein Zitat aus der 9. Symphonie von Beethoven. Erst der Anfang des ersten Satzes. Zwei Takte später: Der langsame Satz. Es wirkt, als knüpft Mahler einfach dort an, wo Beethoven aufgehört hat. Und dennoch: Schon nach wenigen Takten ist klar dass Mahler hier etwas vollkommen neues entwickelt. Mahler schafft, gleich vom Anfang seiner ersten Symphonie an, eben seine komplett “eigene Welt”, für die er so bekannt ist.
Das eigentliche „Hauptthema“ des ersten Satzes bezieht sich auf ein von Mahler selbst komponiertes Lied „Ging heut‘ Morgen über‘s Feld,“ aus dem Liederzyklus „Lieder eines fahrenden Gesellen“. Diese Stelle ist einer der schönsten Momente der ganzen Symphonie, gar einer der schönsten, die Mahler überhaupt komponiert hat. Jedes mal wenn ich diese Stelle höre, habe ich das Gefühl, ich stehe mitten in einem oberbayerischen Sonnenblumenfeld. Ohne Hektik und ohne Angst. Die Sonne scheint. Durch die Täler der Lenggrieser Alpen erklingt der Klang einer Trompete.
Im zweiten Satz erfolgt dann ein ländlerartiges Motiv im Dreivierteltakt. An dieser Stelle ist die Musik nun endgültig in den Alpen angekommen. Am Wörthersee oder in Tirol. Egal. Hauptsache dort, wo es Frittatensuppe gibt. Die Frittatensuppe, die ich in meiner Kindheit sehr oft gegessen habe. Im vierten Satz folgen dann erneut bekannte Klänge. Diesmal aber nicht Beethoven, sondern Wagner. Genauer gesagt ein Parsifal-Motiv, ja genau das Parsifal-Motiv, dass am Ende der Verwandlungsmusik im ersten Akt erklingt. Sicherlich einer meiner weiteren Lieblingsmomente der Musik.
Sehr gut erinnern kann ich mich an das eine Mal, als ich diese Symphonie im Wiener Musikverein gehört habe. Gespielt haben damals die Wiener Philharmoniker, am Pult stand Daniel Barenboim. Die gesamte Symphonie klang einfach genau so, wie ich sie mir immer vorgestellt hatte. Purer Perfektionismus.
Keine zwei Wochen später habe ich dieselbe Symphonie erneut live gehört, diesmal in der Berliner Philharmonie, selbstverständlich mit den Berliner Philharmonikern. Diese „Konzertreihe“ wird mir wohl noch länger im Gedächtnis bleiben. Nicht nur wegen Mahler. Sondern auch, weil es sehr selten vorkommt, dass ich meine zwei Lieblingsorchester unter dermaßen ähnlichen Bedingungen vergleichen kann. Und dann noch mit dieser Symphonie. Ein Traum. Auch wenn die von mir als „Referenzaufnahme“ bezeichnete Einspielung von Claudio Abbado mit den Berliner Philharmonikern immer noch etwas feingeschliffener perfektioniert ist.
Besser wird das nicht, dachte ich mir damals. Doch ein kurzer Blick in eines der vielen musikwissenschaftlichen Werke zu Mahlers Symphonien weckte die Erkenntnis, dass man selbst nach unzähligen Konzerten und noch sehr viel mehr Aufnahmen immer noch nichts von dieser Symphonie verstanden hat. Der Inhalt und der Schaffensprozess dieser Symphonie, es steckt einfach so unendlich viel Detail darin. Man hat das Gefühl, man könnte ganze Doktorarbeiten, gar ganze Karrieren dieser einen einstündigen Symphonie widmen.
Wenn ich diese Symphonie höre, habe ich manchmal das Gefühl, dass diese eigene Welt dieser Symphonie ein einziges Paradies ist. Sie enthält einfach all die Musik, die mir in meinem Leben wichtig ist. Ganz vorne mit dabei: Der Mahler-Klang.
Johannes K. Fischer, 8. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at