Der in Hamburg lebende Journalist und Publizist Harald N. Stazol liebt klassische Musik, Oper und Ballett. Besonders schätzt er die Musik des russischen Komponisten Sergei Wassiljewitsch Rachmaninoff (* 20. Märzjul./ 1. April 1873greg. auf dem Landgut Semjonowo bei Staraja Russa im Gouvernement Nowgorod, Russisches Kaiserreich; † 28. März 1943 in Beverly Hills, Kalifornien, USA). Dies ist der fünfte Teil einer siebenteiligen Serie über den Ausnahmemusiker.
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von Harald N. Stazol
Unverzeihlich! Da haben wir die 3. Symphonie im vierten Teil angekündigt, unterschlagen, und die Reise nach Amerika vorangesetzt… Es sind die Dreien, die nun Sergeij Rachmaninoff antreiben, das dritte seiner Klavierkonzerte entwirft er “au point”, auf den Punkt, wie ein Rotisseur sein Filet Wellington im “Club de Rôtisserie”, im Intercontinal in im Londoner Stadtteil Kensington, mit Blick über den Eaton Square – aber dies nur nebenbei: für eine US-Tournee.
Man kennt es von Antonín Dvoràk: Seine „Geisterbraut“ wird vom Hallé Orchestra in Birmingham bestellt, er findet einen Chor von 1000 (!) Sängern vor, der Zyklus ist perfekt eingespielt für die Uraufführrung – gerade wurde Mary Shelleys „Frankenstein“ verlegt, nach dem Tode des Prinzgemahls Albert herrscht, ganz nach Queen Victorias Vorbild, im Adel nur noch schwarz. „The Black Ascot“ geht in die Geschichte ein, man denke an eine immerwährende Trauer.
Nun nimmt er einen „gothic“ Stoff aus der tschechischen Märchenwelt, wirbelt Chor um Thema und Trommelwirbel dahin – und am Ende hängt an jedem Kiosk des Königreichs sein Konterfei, so berühmt ist er.
Deswegen ja das moll.
Man kann auch im französischen TGV nach Marseilles auf der CD „Rachmaninoff plays Rachmaninoff” einem Wunder nachhören – von den unersetzlichen Aufnahmen auf den Walzen der Klaviere „Ampico“ war ja schon die Rede. Da werden nun die „Cinq Morceaux de Fantaisie“ zusammengebracht, alle in moll, in einem Zeitraum von 1919 bis 1928 individuell im Studio entstanden, während sich also die Aufnahmetechnik zur Höchstform der Technik aufwirft: Einige der hier versammelten Titel sind schon allein deswegen ein Wunder, weil sie nie für Grammophon eingespielt wurden.
Huch, eines ist in Dur – die Humoresque in G, op.10 Nummer 3 – und da hört man den schwerenötigen Romantiker, meist von dunklen Stimmungen geplagt, nun doch einmal fast jauchzen, aber es gibt auch Bearbeitungen des Meisters, von denen das amerikanische Patriotenlied, die Nationalhymne „A star spangled banner“, wohl am erstaunlichsten ist – aber schließlich ist Amerika nun die Wahlheimat des Russen, da setzt man sich auch mit diesen Gepflogenheiten sicherlich gerne auseinander, und es ist ja so eine einfache Melodie.
Vergessen die Spaltung der russischen Schule, in der der Konkurrent Skriabin sich einer neuen Tonalität verpflichten lässt, was SR kalt lässt. Igor Stravinsky wird sie einst noch überhöhen – aber natürlich wird von ihm noch gesondert zu sprechen sein.
Damals schreibt der Musikkritiker Wjatscheslaw Karatygin: „Das Publikum vergöttert Rachmaninow, weil er den durchschnittlichen Spießergeschmack trifft.“ Dann scheine ich – horribile Dictu – ein durchschnittlicher Spießer zu sein… aber gibt es nicht auch in Thomas Manns „Tonio Kröger“ einige Sätze, da dem Helden im Mannesalter von einer (ausgerechnet) russischen Künstlerin in ihrem Münchner Atelier im vollen Tageslicht unterstellt wird, er sei ein Bourgeois? „Ich bin vernichtet“, lautet dessen Antwort, letzteres in dem für Mann so untypischen Kursiv gesetzt.
Dann wollen wir also mit diesem Urteil leben.
Was aber die 3. Symphonie mit Spießertum zu tun haben soll, entzieht sich, wie so vieles, meinem Verständnis: Ganze Welten tun sich doch darin auf, die eigenartigerweise recht beunruhigend wirken können, was natürlich auch vom Geisteszustand abhängen mag, in dem man hineinhört; sicher ist nur, dass man wie immer, wenn man SR hört, in einen anderen gerät. Yoga fürs Gehör.
Da sind die Glocken! Die Kirchenglocken, die der kleine Sergej schon als Kind hört, und die immer wieder in seinem Schaffen auftauchen werden, letztlich immer dann, wenn er melodisch keinen Ausweg mehr hat – aber er findet ihn immer. Dvoràk nimmt ja in seiner „Geisterbraut“ auch Thema um Thema auf, jedes Material für eine Symphonie, eine symphonische Dichtung, um es einmal aufscheinen zu lassen und dann einfach wieder wegzuwerfen: Er hat so viele davon..
In der Dritten sind solch hitverdächtige Stellen, dass man sofort begreift, warum SR auf Wikipedia eine ganze Kategorie „Einflüsse auf die Populärmusik“ gewidmet ist. Und dass sich die Amerikaner der Filmmusiken an ihm “orientieren”, ist ohne Zweifel: Allein Glasunovs “Herbst” setzt die Zeichen für jeden “Cowboy und Indianer”-Western, man möge dem nachhören.
Und man erhört die Entwicklung des Genies geradezu – nun hat er es nicht mehr nötig, sich irgendjemandem anzubiedern, er wird freier und freier, und ganz elegisch legt sich nun der dritte Satz der Dritten hin – und sprachen wir nicht von Rachmaninoffs Dreieinigkeit? Auch im dritten Klavierkonzert erzählt der Russe sich aus. Wobei er sich in seinem gesamten Werke nie auserzählt, aber davon noch mehr.
Diesem musikalischen Erzählstile sich nun weiter hinzugeben, das soll nun im sechsten Theile erfolgen.
Harald N. Stazol, 19. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Harald N. Stazol ist wie der Herausgeber Andreas Schmidt Absolvent der Henri-Nannen-Schule (Journalistenschule mit Sitz in Hamburg). Beide waren als Redakteure Kollegen beim Magazin STERN.